Shmerke Kaczerginsi 1944 (Yad Vashem)Shmerke Kaczerginski wurde am 28. Oktober 1908 in Vilnius geboren, wuchs nach dem frühen Tod der Eltern mit seinem Bruder beim Großvater auf. Er besuchte die Talmud-Tora-Schule für bedürftige Kinder und bildete sich nach Abschluss der Grundschule in Abendkursen weiter. Tagsüber arbeitete er in einer Lithographie-Werkstatt, wo er Kontakt zur kommunistischen Jugendbewegung bekam, deren Mitglied er wurde. 1929 schloss er sich dem avantgardistischen literarisch-künstlerischen Kreis „Jung Wilne“ an, dem u.a. der Schriftsteller Abraham Sutzkever angehörte.

Während der Besatzung von Vilnius durch die Rote Armee ab 1940 engagierte sich Kaczerginski gegen die Unterdrückung der jüdischen Kultur durch die sowjetischen Behörden. Nach der deutschen Besetzung Litauens im Juni 1941 wurde Kaczerginski – nachdem er als „Taubstummer“ den ersten Verfolgungen entgehen konnte – 1942 in das Ghetto von Vilnius gesperrt und wurde sofort Mitglied der jüdischen Widerstandsorganisation FPO unter der Führung von Abba Kovner. Gemeinsam mit Sutzkever und anderen Künstlern organisierte Kaczerginski das kulturelle Leben im Ghetto und bezog dabei vor allem die Jugendlichen mit ein: Theatervorstellungen, Literaturabende und Bildungsprogramme stärkten Würde und Selbstachtung der Ghetto-Gefangenen. Besonders die Texte seiner Lieder gaben Mut und waren im Ghetto beliebt und bekannt: Friling schrieb er nach dem Tod seiner Frau, Yugnt Himen wurde zur Hymne des Jugendclubs im Ghetto, Itsik Vitnberg widmete er dem Anführer der FPO nach dessen Ermordung.

Kaczerginski (l) und Sutzkever im Ghetto 1943 (Foto s. Kruk)Kaczerginski, Sutzkever und eine Gruppe von intellektuellen Freunden, die als „Papierbrigade“ bekannt waren, versuchten, so viele jüdische Bücher und Kultgegenstände wie möglich vor dem Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) zu retten. Sie versteckten die Werke sorgfältig oder schmuggelten sie auf ihrem Weg von der Arbeit zurück in das Ghetto. Kurz vor der Liquidierung des Ghettos im September 1943 gelang Kaczerginsi und anderen Mitglieder der FPO die Flucht zu den sowjetischen Partisanen in die Naroczer Wälder; bereits dort begann er mit der Dokumentation von Liedern und Augenzeugenberichten. Als Mitglied einer jüdischen Partisaneneinheit war er bei der Befreiung der Stadt Vilnius im Juli 1944 durch die Rote Armee beteiligt. Kaczerginski, Kovner und Sutzkever machten sich sofort an die Bergung der versteckten Dokumente und Kulturgüter aus dem Ghetto und begannen mit dem Aufbau eines Jüdischen Museums, das jedoch 1949 im Rahmen der antizionistischen Kampagne Stalins wieder geschlossen wurde.

Nach erfolglosen Bemühungen, die Lieder und Zeugenaussagen in Litauen zu veröffentlichen, zog Kaczerginski nach Łódź und kümmerte sich dort im Rahmen der Jüdischen Historischen Kommission um die Dokumentation und eine erste Anthologie jiddischer Lieder. In Łódź heiratete Kaczerginski ein zweites Mal, verließ 1946 mit seiner Frau nach einer Welle von Antisemitismus Polen und zog nach Paris, wo 1948 seine Liedersammlung Dos Gezang Fun Vilner Geto erschien. Bereits 1947 erschien in New York sein Bericht über das Ghetto Churbn Wilne in Jiddisch. Ebenfalls in New York wurde 1948 seine Anthologie Lider fun di Getos un Lagern publiziert, die zum bekanntesten Werk jüdischer Lieder aus dem Holocaust gehört.

Kaczerginski reiste im November 1947 durch die amerikanische Besatzungszone in Deutschland, hielt Vorträge und sammelte in DP-Lagern weiteres Material, das er der in München ansässigen Zentrale der Jüdischen Historischen Kommission übergab. Die Dokumente wurden von dort dem Archiv von Yad Vashem zur Aufbewahrung übergeben. Im YIVO in New York befindet sich heute die „Sutzkever-Kaczerginski-Collection“ mit aus dem Ghetto geretteten Büchern und Dokumenten, zu denen auch die Tagebücher von Zelig Kalmanovitch und Herman Kruk gehören sowie ein Teil der Vorkriegs-Sammlung des YIVO.

1950 wanderte Shmerke Kaczerginski nach Argentinien aus und arbeitete in Buenos Aires als Schriftsteller und Vermittler jüdischer Kultur das Schicksals der Juden im Holocaust auf. Auf einer seiner zahlreichen Reisen in die USA, nach Kanada und Lateinamerika kam Kaczerginski bei einem Flugzeugabsturz im April 1954 ums Leben.

Shtiler Shtiler – von Kaczerginski gedichtet und von dem 11-jährigen Alek Volkoviski komponiert – wurde zum meist geliebten Lied im Ghetto und zur „Hymne von Ponar“.

 

Shtiler shtiler

Ponar – Weg zu den Mordgruben1. Still, still, lasst uns schweigen,
Gräber wachsen hier.
Die Feinde haben sie gepflanzt,
wachsen sie grün ins Himmelblau.
Es führen Wege nach Ponar hin,
kein Weg führt zurück. 
Ist der Vater dort verschwunden
und mit ihm das Glück.
Still, mein Kind, weine nicht, Schatz,
es hilft kein Weinen.
Unser Unglück werden die Feinde
ohnehin nicht verstehen.
Selbst die Meere haben Grenzen,
die Lager haben Zäune,
nur unsere Qual
nimmt kein Ende.

2. Frühling ist ins Land gekommen,
hat uns den Herbst gebracht.
Ist der Tag heute auch voller Blumen,
uns sieht nur die Nacht.
Vergoldet der Herbst 
Schon die Zweige,
blüht in uns der Schmerz.
Eine Mutter bleibt vereinsamt,
ihr Kind muss nach Ponar.
Die im Eis gefesselte Wilja
Hat auch vor Qualen gestöhnt.
Es jagen Eisschollen
durch Litauen 
jetzt ins Meer hinein.
Ponar – Kindergrube  Die Finsternis zerrinnt,
aus dem Dunkel leuchten Sonnen.
Reiter, komm' geschwind,
dich ruft dein Kind.

3. Stiller, stiller, es brodeln Quellen
in unseren Herzen.
Doch solange die Tore nicht fallen,
müssen wir stumm bleiben.
Freu' dich nicht, Kind,
dein Lächeln ist jetzt
für uns Verrat.
Der Feind soll den Frühling
Erleben wie das Blatt den Herbst.
Lass die Quelle ganz leise fließen,
sei still und hoffe …
Mit der Freiheit kommt der Vater,
schlaf doch, mein Kind, schlaf.
Wie die eisbefreite Wilja,
wie die grün erblühenden Bäume,
so leuchtet bald das Freiheitslicht
auf deinem Gesicht.


Literatur / Medien
Atamuk, Solomon: Juden in Litauen. Ein geschichtlicher Überblick vom 14. bis 20. Jahrhundert, hrsg. von Erhard Roy Wiehn, Konstanz 2000, S. 180f.; Kostanian-Danzig, Rachel: Spiritual Resistance in the Vilna Ghetto, Vilnius 2002; Kruk, Herman: The Last Days of the Jerusalem of Lithuania. Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939–1944, hrsg. von Benjamin Harshav, New Haven u. London 2002 (Foto o.S.).
http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Kaczerginski_Shmerke
http://www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/music/after_holocaust.asp
http://jewishcurrents.org/tag/shmerke-kaczerginski/ 
Das Lied von Ponar, Radioübertragung und Text: http://www.juden-in-europa.de/baltikum/vilna/ponar
Ebenfalls: http://www.hagalil.com/klezmer/nizza/texte/ponar.htm und http://holocaustmusic.ort.org/places/ghettos/

Foto: Yad Vashem, Digital Collections, Photo Archive, Archival Signature: 4613/1065, Item ID 26245