Fania Brancovskaja (auch Brantsovsky), geboren am 22. Mai 1922 in Kaunas, lebte seit 1927 mit ihren Eltern Jocheles, den Großeltern und der jüngeren Schwester Riva im damals noch polnischen Vilnius. Sie besuchte das jiddisch-sprachige Realgymnasium, engagierte sich in der zionistischen Pfadfinderbewegung, besuchte nach dem Schulabschluss 1939/1940 ein Lehrerbildungsinstitut in Grodno (Weißrussland) und unterrichtete danach ein Jahr lang an einer Dorfschule. Inzwischen war sie Mitglied der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol geworden. Anfang Juni 1941 kehrte sie in das inzwischen litauisch gewordene Vilnius zurück (Hitler-Stalin-Pakt), um an der Universität ihre Ausbildung fortzusetzen; der Einmarsch der Deutschen in Litauen am 22. Juni 1941, zwei Tage später in Vilnius, machte diese Pläne zunichte.
Bis zur Errichtung des Ghettos Anfang September erlebte Fania mit ihrer Familie alle Schikanen und Gewalttaten, denen unter deutscher Besatzung und unter dem Terror litauischer Nationalisten (Litauischer Aufstand) Kommunisten und Juden der Stadt wochenlang ausgesetzt waren. Fanias Versuch, sich in die Sowjetunion durchzuschlagen, scheiterte, sie wurde mit ihrer Familie am 6. September 1941 in das Ghetto „umgesiedelt“. Da ihr Vater als Elektromechaniker eine Anstellung bekam, war die Familie vorerst vor Deportationen bewahrt. Fania arbeitete in Gelegenheitsjobs, bis Sonia Madeysker ihr feste Arbeit in von der Besatzung unterhaltenen Werkstätten innerhalb des Ghettos vermittelte: unter harten Bedingungen u.a. Flechten von Strohüberschuhen und Strickwaren für die deutschen und litauischen Wachmannschaften. Im Ghetto schloss sich Fania 1942 der Widerstandsorganisation Fareynegte Partizaner Organizatsye (FPO) an. Männer und Frauen waren in der FPO gleichberechtigt, zu deren Aufgaben gehörte u.a. das Schmuggeln von Lebensmitteln und Waffen ins Ghetto und geheime Herstellung und Verteilung von Flugblättern. Fania lernte im tief gelegenen Keller der Ghetto-Bibliothek Schießen. Als die FPO im Juli 1943 durch Verrat und Erpressung ihren Anführer Yitzak Witenberg verlor und klar wurde, dass die große Mehrheit der Ghetto-Bevölkerung nicht zu einem Aufstand bereit war, beschloss die FPO-Führung, nach und nach möglichst viele Mitglieder in die umliegenden Wälder zu den Partisanen zu schleusen.
Am 23. September wurden Fania und ihre Kameradin, Doba Debeltov, von der FPO-Führung beauftragt, Kontakt zu einer Partisaneneinheit in den Rudniki Wäldern aufzunehmen. Fania sollte ihre Eltern und ihre Schwester Riva nicht mehr wiedersehen. Beim Verlassen des Ghettos wurde den beiden Frauen Fania und Doba wegen des starken Polizeiaufgebots klar, dass dem Ghetto die Liquidierung bevorstand. Nach zwei Tagen erreichten sie mit Glück und Hilfe eines jungen Polen den Rudniki Wald und das Lager der Partisanen. Fania gehörte bald zur Partisanengruppe Für den Sieg! unter Führung von Shmuel Kaplinski. In dieser Einheit lernte Fania ihren späteren Ehemann, Mikhail Brantsovsky aus Vilnius, kennen. Sie war an unterschiedlichen Aktionen beteiligt: u.a. der Zerstörung von Telefonverbindungen, auch Brücken- und Bahnliniensprengungen. Mikhail und Fania nahmen im Juli 1944 mit ihrer Einheit an der Befreiung von Vilnius teil. Nach dem Krieg wurde Mikhail in einer offiziellen Feier auf dem Roten Platz in Moskau mit der Medaille ‚Partisan des Vaterländischen Krieges erster Klasse‘ ausgezeichnet. Er starb 1985.
Fanias Mutter und Schwester Riva wurden nach Riga deportiert, wo die Mutter ermordet wurde. Riva wurde weiter ins Konzentrationslager Stutthof verschleppt und ermordet, der Vater kam im Herbst 1944 in Klooga um.
Das Ehepaar Brantsovsky blieb in Litauen und gründete eine Familie, bekam zwei Töchter. Fania absolvierte ein Studium der Ökonomie und arbeitete danach im Amt für Statistik in Vilnius in leitender Funktion. Seit ihrer Pensionierung arbeitete Fania viele Jahre als ehrenamtliche Bibliothekarin im Yiddischen Institut der Universität Vilnius, sie berät bis heute im Komitee ehemaliger Ghetto- und KZ-Häftlinge in Vilnius Überlebende. Als unermüdliche Zeitzeugin hält sie vor allem mit Führungen durch das ehemalige Ghetto und bei Veranstaltungen auch in Deutschland die Erinnerung an den Holocaust in Litauen und an den jüdischen Widerstand wach. Der Dokumentarfilm „Liza ruft“ (2015) gibt hiervon einen starken Eindruck.
2008 leitete die litauische Staatsanwaltschaft auf der Grundlage antisemitisch motivierter Zeitungsberichte – jüdische Partisanenmitglieder seien im Januar 1944 an der Zerstörung eines litauischen Dorfes und der Tötung litauischer Bewohner beteiligt gewesen – gegen vier auch international bekannte, ehemalige jüdische Widerstandangehörige strafrechtliche Ermittlungen ein. Fania Brancovskaja, die als einzige zeitlebens in Litauen wohnte und dort immer gemeldet war, während die drei anderen Verdächtigten wie Yitzhak Arad und Rachel Margolis im Ausland lebten, wurde polizeilich gesucht und von der Staatsanwaltschaft vernommen. Die Ermittlungen gegen sie wurden danach eingestellt, nicht zuletzt auf Grund internationaler Proteste. Das Vorgehen der litauischen Justiz gegen die vier Betroffenen wurde zu Recht als gezielt antisemitisch gewertet. Im Oktober 2009 wurde Fania Brancovskaja das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen.
Literatur / Medien
Bartusevičius u.a. (Hg.): Holocaust in Litauen, Köln u.a. 2003, S. 239ff.; With a Needle in the Heart: Memoirs of Former Prisoners of Ghettos and Concentration Camps, Genocide and Resistance Research Centre of Lithuania, Vilnius 2003, S. 45–54; Margolis, Rachel: Als Partisanin in Wilna. Erinnerungen an den jüdischen Widerstand in Litauen. Frankfurt/M. 2008; Skroblies, Hanni; Fania Brancovskaja, in: Hervé, Florence (Hg.): Mit Mut und List. Europäische Frauen im Widerstand gegen Faschismus und Krieg, Köln 2020, S. 228-233
www.centropa.org/biography/fania-brantsovskaya
www.openklezmerscales.de/index.php?page=fania-brancovskaja
www.taz.de/!581194/
www.lizaruft.com
Führung von Fania Brankovskaja durch das ehemalige Ghetto (2010): https://www.youtube.com/watch?v=YUXY2IFECZA&feature=relate
www.black-dog-ev.de/blackdog.php?p=1.2#KJ (Ausschnitt Film: Karl Jäger und wir. Die langen Schatten des Holocaust in Litauen. Ein Mehrgenerationen-Filmprojekt von Black Dog e.V. - Jugend und Medienbildung.