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Sie stammte aus einer deutsch-jüdischen Intellektuellen-Familie. Nach dem Besuch der Schule in Berlin emigrierte sie 1934 mit ihrer Familie nach Spanien, 1938 nach Frankreich. Nach der Besetzung wurden ihre Eltern in Gurs inhaftiert. Marianne Cohn war dann als Kinderfürsorgerin bei der zionistischen Jugendorganisation „Mouvement des Jeunesses Sionistes“ tätig und half von der Deportation bedrohten jüdischen Kindern in Sammeltransporten über die Grenze in die Schweiz. Dabei wurde sie von der Gestapo verhaftet und gefoltert – eine ihr angebotene Flucht lehnte sie ab, um bei den Kindern zu bleiben. Am 8. Juli 1944 wurde sie erschossen, die genauen Todesumstände sind bis heute ungeklärt. Sie erhielt posthum das Kriegskreuz mit silbernem Stern. Schulen in Annemasse und Berlin sowie eine Straße in Ville-la-Grande sind nach ihr benannt.

Literatur/Medien:
Gedicht: Verraten werde ich morgen (1943), in: Selle, Ingrid (Hg.): Frankreich meines Herzens. Résistance in Gedicht und Essay, Leipzig 1987, S. 171.
Dictionnaire historique de la Résistance, Paris 2006, S. 392f.

 

Je trahirai demain / Verraten werde ich morgen (1943)

Je trahirai demain pas aujourd'hui.
Aujourd'hui, arrachez-moi les ongles
Je ne trahirai pas.

Vous ne savez pas le bout de mon courage.
Moi je sais.
Vous êtes cinq mains dures avec des bagues.
Vous avez aux pieds des chaussures
Avec les clous.

Je trahirai demain, pas aujourd'hui,
Demain.
Il me faut la nuit pour me résoudre,
Il ne me faut moins d'une nuit
Pour renier, pour abjurer, pour trahir.

Pour renier mes amis.
Pour abjurer le pain et le vin,
Pour trahir la vie,
Pour mourir.

Je trahirai demain, pas aujourd'hui.
La lime est sous le carreau,
La lime n'est pas pour le barreau,
La lime n'est pas pour le bourreau,
La lime est pour mon poignet.

Aujourd'hui je n'ai rien à dire,
Je trahirai demain.



Verraten werde ich morgen

Verraten werden ich morgen, nicht heut.
Heut reißt mir die Nägel aus.
Ich verrate nicht.

Ihr wisst nicht, wo mein Mut aufhört.
Ich weiß es.
Ihr seid fünf harte Hände mit Ringen,
Und an den Füßen habt ihr Stiefel,
Mit Nägeln.

Verraten werden ich morgen, nicht heut.
Morgen.
Ich brauche die Nacht, um mich zu entschließen.
Ich brauche nicht weniger als eine Nacht,
Um zu verleugnen, abzuschwören, zu verraten.

Um meine Freunde zu verleugnen,
Dem Brot und dem Wein abzuschwören,
Das Leben zu verraten,
Um zu sterben.

Verraten werde ich morgen, nicht heut.
Die Feile steckt unter der Fliese.
Die Feile ist nicht für das Gitter.
Die Feile ist nicht für den Henker.
Die Feile ist für meinen Puls.

Heute habe ich nichts zu sagen.
Verraten werden ich morgen.

(Deutsche Übersetzung von Irene Selle in: Selle, Irene (Hg.): Frankreich meines Herzens. Die Résistance in Gedicht und Essay, Leipzig 1987, S. 171)