Mit anderen Augen. Webseite des »Studienkreis Deutscher Widerstand 1933–1945« informiert über geschichtsträchtige Reiseziele


Von Peer Heinelt

Im französischen Oradour-sur-­Glane sind die Spuren des Nazi-Besatzungsterrors bis heute sichtbar. Der 25 Kilometer nordwestlich von Limoges gelegene Ort zerfällt in zwei Teile: Links der Departementstraße 3 findet sich ein ganz normales Dorf, das für Besucher Fremdenverkehrsbüro, Hotel und Restaurant bereithält; rechts der D 3 liegt das »Village Martyr«, das genau so aussieht, wie es die Deutschen am 10. Juni 1944 hinterlassen haben. In Absprache mit der Wehrmacht fiel an diesem Tag eine Einheit der SS-Division »Das Reich« in Oradour ein und trieb die Bewohner auf dem Marktplatz zusammen. Die Kinder und Frauen des Dorfes sperrten die Soldaten in die Kirche, die sie danach in Brand setzten; die Männer wurden am Ortsrand erschossen. Insgesamt ermordete die Waffen-SS in Oradour unter dem Vorwand der »Partisanenbekämpfung« 642 Menschen jeden Alters; vom Dorf selbst ließ die selbsternannte Elitetruppe von »Weltanschauungskriegern« nur Ruinen übrig.

Oradour-sur-Glane steht stellvertretend für eine lange Reihe von oftmals nur wenig bekannten Orten, auf die der in Frankfurt am Main beheimatete »Studienkreis Deutscher Widerstand 1933–1945« mit einer jüngst ans Netz gegangenen Webseite aufmerksam machen will. Das Portal www.gedenkorte-europa.eu soll den Betreibern zufolge »Reisende informieren, die die Nachbarländer Deutschlands in West- und Südeuropa besuchen und die sich – neben Kultur, Landschaft, Sprache und Erholung – auch für die jüngste Geschichte dieser Länder interessieren, die im Zweiten Weltkrieg von den Truppen und Organisationen Nazi-Deutschlands besetzt waren«. Man wolle, so heißt es, Touristen dazu anregen, ihre Ferienziele »mit anderen Augen« zu sehen: »Museen für Resistancekämpfer und Partisanen, Gedenksteine für Widerstandskämpferinnen und -kämpfer, Hinweistafeln auf Verbrechen der Besatzer – überall finden sich Orte der Erinnerung, oft versteckt und wenig beachtet.«

In einem ersten Schritt haben die Mitarbeiter des Studienkreises nun mehrere hundert solcher Orte in Frankreich und Italien ausfindig gemacht und auf einer interaktiven Karte verzeichnet. Nach Regionen geordnet findet der Nutzer hier Informationen über die dortigen Geschehnisse während des Zweiten Weltkriegs; zahlreiche Fotografien vermitteln ihm einen ersten Eindruck davon, was ihn bei einem Besuch erwartet. Ergänzt werden die Angaben durch Wegbeschreibungen, ausgewählte Kurzbiographien und Hinweise für weitergehende Recherchen. Erklärtes Ziel ist es dabei stets, »Verständnis für die Narben in den kulturellen Gedächtnissen der ehemals besetzten Regionen« zu wecken. Das Projekt soll in den kommenden Jahren mit Wegweisern zu Gedenkorten in weiteren europäischen Ländern fortgesetzt werden; zunächst ist eine Ausweitung auf Griechenland geplant.

Die auf der Webseite zu findenden Texte erschöpfen sich allerdings nicht in der reinen Beschreibung des Naziterrors und des dagegen gerichteten Widerstandes. Thematisiert wird darüber hinaus auch der Umgang mit Tätern und Kollaborateuren nach 1945. So erfährt der Leser etwa, daß die für das Massaker von Oradour-sur-Glane Verantwortlichen in der Bundesrepublik Deutschland nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Zwar verurteilte das Militärgericht in Bordeaux den Kommandeur der SS-Division »Das Reich«, Heinz Lammerding, 1953 zum Tode – allerdings in Abwesenheit. Da sich die BRD ihrerseits weigerte, den SS-General an Frankreich auszuliefern, und gleichzeitig keinen Grund für eine Strafverfolgung sah, wurde Lammerding nie für seine Verbrechen belangt. In der DDR indessen stellte sich der Fall anders dar: Das Stadtgericht Berlin verurteilte 1983 den am Massenmord von Oradour beteiligten SS-Offizier Heinz Barth zu lebenslanger Haft. Nach Auswertung dieses Verfahrens nahm die Staatsanwaltschaft Dortmund schließlich Ende 2011 die Ermittlungen gegen sechs, inzwischen über 80jährige SS-Schlächter wieder auf. Allein aufgrund des hohen Alters der Mörder dürfte es allerdings kaum zu einer Verurteilung kommen. Auch das sollten Frankreich-Reisende bedenken.

(Junge Welt, 20.02.2013, Seite 15)

Quelle: www.jungewelt.de/2013/02-20/006.php