Bezirk Šiauliai
Der Ort
Die Bezirkshauptstadt Šiauliai mit über 100.000 Einwohnern (2016) ist die drittgrößte Stadt Litauens. Šiauliai liegt 60km von der Grenze zu Lettland entfernt, ca. 200km nordwestlich von Vilnius und von dort auf der A2 und A9 zu erreichen. Ende des 19. und vor allem im 20. Jahrhundert entwickelte sich die Schuh- und Lederindustrie zu einem europaweit bedeutenden Wirtschaftszweig. Exemplarisch dafür stand die Lederfabrik der jüdischen Familie Fraenkel. Heute ist Šiauliai erneut ein bedeutender Wirtschaftsstandort und Verkehrsknotenpunkt – mit seiner Universität auch das Kultur- und Bildungszentrum Nordlitauens.
Die Ereignisse
1940 lebten in Šiauliai unter den ca. 30.000 Einwohnern zwischen 6.000 und 7.000 Juden. Die jüdische Gemeinde der Stadt war eine der größten in Litauen. Die Mehrzahl der Unternehmen und Betriebe befand sich in jüdischem Besitz. Juden bildeten auch einen Großteil der Arbeiterschaft und Handwerker. Unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch im Juni 1941 flüchteten mehrere hundert Juden in die Sowjetunion, hunderte wiederum kamen als Flüchtlinge aus dem deutsch-litauischen Grenzgebiet in die Stadt. Am 27. Juni 1941 besetzte die Wehrmacht Šiauliai, unmittelbar gefolgt vom SS-Einsatzkommando 2 auf dessen Weg nach Lettland; ein Teilkommando blieb bis Oktober 1941 in Šiauliai.
Bereits in den Tagen zuvor hatten litauische Nationalisten mit der Verfolgung von Juden und Kommunisten begonnen. Sie verhafteten am 27. Juni zwischen 500 und 750 Juden. Ersten Erschießungen im Wald bei Kužiai, etwa 14km von Šiauliai entfernt, folgte wenig später die Ermordung von ungefähr 600 der Verhafteten beim Dorf Pročiūnai, einige Tage später der Mord an 20 Repräsentanten der jüdischen Gemeinde. Angehörige des SS-Einsatzkommandos 2 und litauische Helfer führten die Exekutionen durch. Allein in den ersten Wochen nach dem Einmarsch der Deutschen wurden über 1.000 Juden umgebracht. In dieser Phase kam es zu einem Machtkampf zwischen Wehrmachtsverwaltung, die vor allem die großen Lederfabriken Fraenkel und Bata sofort unter ihre Kontrolle genommen hatte, und dem SS-Einsatzkommando sowie der litauischen Stadtverwaltung, die beide mit der Ermordung aller Juden beginnen wollten. Die Streitfrage war: entweder Aufrechterhaltung der Produktion in den Lederfabriken, die ohne jüdische Facharbeiter nicht möglich war, oder sofortige Ermordung aller Juden. Die Wehrmacht setzte sich durch und rettete – aus Eigeninteresse an der Lederverarbeitung – wenigstens vorübergehend viele jüdische Arbeiter und deren Familien vor der von SS und Litauern gewollten Ermordung. Das jüdische „Umsiedlungskomitee“, aus dem wenig später der Judenrat des Ghettos hervorging, hatte die Initiative der Wehrmacht für die Errichtung eines Ghettos unterstützt, weil es damit die drohenden Vernichtungspläne der SS und der litauischen Verwaltung zu verhindern hoffte.