Bezirk Tauragė
Der Ort
Tauragė, heute eine Industriestadt im Südwesten Litauens mit ca. 22.600 Einwohnern (2017), liegt am Fluss Jūra und ist die Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gehörte Tauroggen zu Preußen und nach den „Polnischen Teilungen“ (Litauische Geschichte) ab 1795 bis 1918 zum zaristischen Russland. Die Annexion des Klaipėda-/Memel-Gebiets 1923 durch Litauen beendete Tauragės Bedeutung als Grenzstadt, die Stadt lag nun innerhalb des litauischen Territoriums. Man erreicht Tauragė von Kaunas aus auf der A7/E85 bis zur Abzweigung Kryžkalnis, dann weiter auf der A12/E77 (ca. 120km), oder von Klaipėda aus auf der A1/E85 bis zur Abzweigung der Straße 164 über Šilalė (ca. 110km).
Die Ereignisse
Im März 1939 hatte Hitler-Deutschland die Rückgabe des Klaipėda/-Memel-Gebiets von Litauen durch ein Ultimatum erzwungen, deutsche Truppen hatten das Gebiet am 22. März 1939 besetzt. Die 7.000 dort lebenden Juden waren damals in die litauische Nachbarregion geflohen, viele von ihnen nach Tauragė. Der Hitler-Stalin-Pakt (August/September 1939) sprach Litauen der Interessensphäre der Sowjetunion zu, die ihrerseits Litauen im Juni 1940 annektierte. Tauragė – damals mit 10.700 Einwohnern – gehörte nun zur Litauischen Sowjetrepublik und wurde am ersten Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) nach schweren Kämpfen von den deutschen Truppen eingenommen. Im Auftrag des Gestapochefs von Tilsit, SS-Sturmbannführer Hans-Joachim Böhme, traf wenige Tage später Kriminalsekretär Paul Schwarz vom Grenzpolizeiposten (GPP) Laugszargen in Tauragė ein. Damit setzte das „Einsatzkommando Tilsit“ den am 24. Juni erteilten Befehl zur „Säuberung“ des litauischen Grenzstreifens von Juden und Kommunisten auch von Tauragė aus um.
Organisationszentrum
Die Stadt wurde zu einem „Organisationszentrum der Morde im Umland“ (Dieckmann 2011). Sofort nach Ende der Kampfhandlungen wurden Juden der Stadt zu Aufräumarbeiten eingesetzt. Die lokale Macht wurde von wenigen Deutschen und litauischen Rechtsextremen ausgeübt, die nahezu vollständig von deutscher Seite eingesetzt waren. Im Laufe der ersten Besatzungswochen meldeten sich viele Litauer, aus denen 70 Männer – meist ehemalige litauische Soldaten – ausgesucht und als „Hilfspolizei“ eingesetzt wurden. Es galten die Befehle der deutschen Besatzung und der wieder eingesetzten litauischen Sicherheitspolizei. Aus den Reihen der litauischen Polizei wurde in Tauragė ein Erschießungskommando gebildet, das in der Stadt und in der weiteren Umgebung (z.B. Batakiai, Žemaičių Naumiestis, Šilalė u.a.) bei Mordaktionen eingesetzt wurde.
Die Morde an Männern
Schwarz veranlasste umgehend die Verhaftung sämtlicher jüdischen Männer im Alter zwischen 14 und 60 Jahren, ungefähr 300, sowie von ungefähr 25 Kommunisten. Die Männer wurden in Arrestbarracken der Kaserne der ehemaligen litauischen Armee gepfercht. Böhme bestimmte den 2. Juli 1941 als Tag der Erschießung, die er leitete, um mit diesem sogenannten „Modellfall“ seinen Untergebenen ein Muster für künftig von ihnen durchzuführende Liquidierungen zu geben. Vorausgegangen war die Ende Juni ebenfalls von Böhme befohlene, im Hof der Kasernen ausgeführte Exekution von 60 Männern, meist Juden und einige Kommunisten, die von Grenzpolizisten in Zusammenarbeit mit litauischen Hilfspolizisten in Tauragė zusammengetrieben worden waren. Am 2. Juli 1941 wurden 133 der gefangenen gehaltenen jüdischen Männer in den nahe gelegenen Ort Visbutai gebracht, wo neben einem zerstörten Landhaus ein Panzergraben ausgehoben war. Die Männer mussten diesen an der Stelle, die als ihr Grab vorgesehen war, vertiefen. Dann wurden die Opfer jeweils in kleinen Gruppen an den Graben geführt und von Angehörigen der deutschen Grenzpolizei, der Gestapo und des SS-Sicherheitsdienstes (SD) Tilsit erschossen.
Weitere 122 Männer aus der Menge der über 300 bereits Verhafteten wurde zwischen dem 3. und 10. Juli 1941 von deutschen Grenzpolizisten (GPP Laugszargen) und von litauischer Hilfspolizei im Wald beim Dorf Antšunijai in der Nähe des Flüsschens Šunija nahe der Straße nach Šilalė ermordet. In der Nähe befand sich der alte jüdische Friedhof von Tauragė.
Die Morde an Frauen und Kindern
Während die Männer aus Tauragė im Rahmen der „Säuberungsmaßnahmen“ erschossen worden sind, wurden die jüdischen Frauen und Kinder am 6. August 1941 in ein provisorisches Ghetto, einige ehemalige unfertige sowjetische Baubaracken in der Vytautas-Straße, gesperrt, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen hausen mussten. Ein ähnliches Barackenlager befand sich daneben, in dem zurückgebliebene Familienangehörige sowjetischer Soldaten festgesetzt wurden. Die Arbeitsfähigen beider Lager wurden zur Zwangsarbeit in der Landwirtschaft eingesetzt.
An einem nicht mehr feststellbaren Tag im September 1941 ließ Schwarz die jüdischen Frauen und Kinder mit Lastwagen abholen und zu der Erschießungsstätte im Wald von Antšunijai bringen. Dort musten sie ihre Wertsachen abgeben und sich nackt ausziehen, bevor sie auf besonders brutale Weise gequält und ermordet wurden. Mindestens 130 Opfer – einige Quellen sprechen von mehr als 1.000 Menschen – wurden von Gestapo-Beamten und litauischen Hilfspolizisten unter dem Kommando von Schwarz ermordet.
Auch in der Nähe von Batakiai wurden jüdische Frauen und Kinder aus Tauragė in drei großen, von den Russen erbauten Baracken eingesperrt, wo sie von litauischen Hilfspolizisten bewacht wurden. Schwarz hatte Böhme ursprünglich vorgeschlagen, das Lager samt Insassen in die Luft zu sprengen, was dieser wegen Gefährdung des in der Nähe gelegenen Bahnhofs ablehnte. Die Opfer wurden daraufhin in einem Sumpfgelände bei Gryblaukis, ca. 3km von Batakiai entfernt, von betrunkenen litauischen Hilfspolizisten unter dem Kommando von Schwarz erschossen. Zuvor mussten die Frauen ein etwa 100 Meter langes Massengrab ausheben und sich völlig nackt ausziehen. Es existieren Aufnahmen von den Erschießungen. Mindestens 500 Frauen und Kinder – andere Quellen nennen zwischen 1.500 und 1.800 – fielen dieser Mordaktion Ende August oder Anfang September zum Opfer.
Gedenken
In und in der Nähe von Tauragė erinnern vier Gedenkorte an die Opfer der Massaker.
Gedenkort I für die die Opfer vom 2. Juli 1941 / Visbutai
Man biegt von der Straße Nr. 164 (in Tauragė die Šilalės-Straße) in die Aerodromo-Straße in Richtung Visbutai ein. An deren Ende folgt man nach rechts der Vytauto-Straße (Nr. 4524). Nach Überquerung eines kleinen Bachs fährt man links in eine Schotterstraße (Lankos-Straße). An dieser Abzweigung befindet sich ein schwarzer Markstein, nach 200m gelangt man zum Gedenkort mit folgender Inschrift (auf Jiddisch und Litauisch): „1941 ermordeten an diesem Ort Hitlers Mörder und deren litauische Helfer 900 Männer: Juden und einige Litauer.“
55.26316806 22.26751972 / 55°15.7901'N 22°16.0512'E