Bezirk Utena
Der Ort
Anykščiai (Aniksht) gehört zu den größeren Städten des Bezirks. Die Stadt mit ungefähr 11.600 (2010) Einwohnern liegt in einem von Hügeln und Wäldern umgebenen Tal am Fluss Šventoji. Nach Utena sind es 30km, nach Panevėžys 60km und nach Ukmergė 40km.
Die Ereignisse
In Anykščiai waren Ende des 19. Jahrhunderts von damals 2.700 Einwohnern nahezu 70 v. H. Juden. Nach der Zerstörung der Stadt im Ersten Weltkrieg und der Flucht der meisten Juden nach Russland kehrten viele von ihnen zurück und verhalfen der Stadt zu neuem wirtschaftlichen Aufschwung; 1923 war die jüdische Bevölkerung wieder auf 1.700 Einwohner angewachsen. Jüdische Geschäfte und Betriebe waren dominierend, doch antisemitische Kampagnen ließen zu Beginn der 1930er Jahre die Auswanderungszahlen in Richtung USA und Südafrika stark ansteigen. Die sowjetische Annexion Litauens 1940 traf das jüdische Leben und auch die jüdischen Betriebe mit Verboten und Enteignungen hart, jüdische Familien waren von den sowjetischen Deportationen im Juni 1941 ebenfalls betroffen.
Als die deutsche Wehrmacht in Litauen am 22. Juni 1941 einmarschierte, flüchteten viele Juden in Richtung Nordosten, viele von ihnen blieben auf dem Fluchtweg stecken, u.a. in Anykščiai. Die deutsche Armee erreichte die Stadt am 27. Juni 1941. Dort begannen nationallitauische Aufständische unmittelbar mit der Verhaftung örtlicher Juden, vor allem Angehörige der Führungsschicht. Betroffen waren auch gestrandete jüdische Flüchtlinge und mutmaßliche Kommunisten. Sie wurden in den Synagogen der Stadt und im Gefängnis eingesperrt, vielfach misshandelt, immer häufiger folgte die Ermordung Einzelner oder ganzer Gruppen. Angeordnet und ausgeführt wurden diese Aktionen von „Weißarmbindern“, die bereits vor Ankunft der Deutschen von Balys Baltrėnas angeführt wurden, einem ehemaligen Offizier der litauischen Armee und nach dem deutschen Einmarsch Bürgermeister von Anykščiai. Nach Zeugenberichten wurden Ende Juni 1941 mindestens 20 jüdische Männer am Rande der Stadt erschossen und in Massengräbern verscharrt. Die meisten der inhaftierten ortsfremden Juden wurden in ihre Heimatorte zurückgeschickt – unter ihnen befand sich Dimitrius Gelpernas, der spätere stellvertretende Leiter des jüdischen Widerstands im Ghetto Kaunas. Viele der jüdischen Flüchtlinge wurden nach Utena gebracht und dort ermordet, eine unbekannte Zahl wurde in Anykščiai selbst getötet.
In Verlauf der Juli-Wochen wurden die Juden der Stadt aus ihren Häusern vertrieben und in die Synagogen gesperrt. Ihre Häuser wurden mit dem Wort „Jude“ gekennzeichnet und geplündert, die erwachsenen Männer und jungen Frauen mussten Zwangsarbeit insbesondere in der Landwirtschaft leisten. Diese Wochen – so berichten Zeugenaussagen – waren von Misshandlungen, Vergewaltigungen und willkürlichen Mordtaten der litauischen Bewacher gekennzeichnet. Ähnlich wie in Utena, wurden auch hier die Juden gezwungen, in ein Camp im nahe gelegenen Wald zu ziehen, wo sie eine Zeit lang leben mussten und schwer misshandelt wurden.
Ende Juli (vermutlich am 28.07.) wurden die jüdischen Männer von ihren Familien getrennt. Ihnen wurde der Einsatz in einem Arbeitslager vorgetäuscht, stattdessen wurden sie in den einen Kilometer außerhalb der Stadt gelegenen Liudiškiai-Wald getrieben und dort erschossen. Einen Monat später, am 29. August 1941, wurden die Frauen, Kinder und älteren Menschen an demselben Ort, dem sogenannten „Hasenhügel“, ermordet. Dies war das gewaltsame und blutige Ende des jüdischen Anykščiai. Die Gesamtzahl der getöteten Juden beträgt ungefähr 1.500, erschossen wurden sie von einem Kommando von rund 20 litauischen „Weißarmbindern“, befehligt von uniformierten Deutschen, vermutlich Angehörige eines von Utena aus operierenden SS-Einsatzkommandos. Das Eigentum der Ermordeten wurde anschließend in das Vereinshaus der örtlichen Schützenunion gebracht und danach zum Teil an die Mitglieder der Weißarminder verteilt.
Gedenken
Nach Anykščiai gelangt man von Ukmergė auf der A6/E262 in Richtung Utena. Nach ca. 21km (Straßenschild Anykščiai 14km) biegt man links auf die Straße Nr. 119 ab. Ca. 1km vor Anykščiai zeigt ein braunes Hinweisschild (Holokausto Aukų Kapai 0,3km) nach links in den Wald. An einer Weggabelung weist ein schwarzer Markstein (200m) rechts zum Gedenkort.
Auf dem Gedenkstein steht auf Jiddisch: „An diesem Ort ermordeten Hitler und seine Mörder sowie ihre lokalen Helfer im Jahr 1941 … Juden aus Anykščiai: Männer, Frauen, Kinder.“ (Anmerkung: die auf dem Gedenkstein ursprünglich genannte Zahl der Opfer ist aus nicht bekannten Gründen unkenntlich gemacht worden.) (Stand: 2018)
55.51214139 25.12572639 / 55°30.7285'N 25°7.5436'E
Literatur / Medien
Bubnys, Arūnas: Holocaust in Lithuanian Province in 1941, Working Paper 2003, S. 63-64 (http://www.docscopic.pdf); Diekmann 2011, Bd. 1, S. 308; Dieckmann, Christoph: Holocaust in the Lithuanian Provinces. Case Studies of Jurbarkas and Utena, in: Kosmala, Beate / Verbeeck, Georgi (Hg.): Facing the Catastrophe. Jews and Non-Jews in Europe during World War II, Oxford u. New York 2011, S. 73-96; Holocaust Atlas 2011, S. 238.
http://www.holocaustatlas.Anykščiai//item/12/ (Holocaust Atlas)
http://www.iajgs.org/cemetery/lithuania/Anykščiai.html (International Jewish Cemetery Project)
https://www.jewishgen.org/Yizkor/lithuania3/lit3_001.html (Josef Rosin: Anykščiai – Pinkas ha-Kehillot, Jerusalem 1996)
https://yahadmap.org/#village/anyk-iai-utena-lithuania.1249 (Zeugenaussage von Julijonas U., Jahrgang 1930, der mit seiner Familie während der Roggen-Ernte die in langen Kolonnen Richtung Wald vorbeiziehenden Juden sah.)
https://www.yahadmap.org/#village/keblonys-utena-lithuania.1251 (Mordstätte Keblonys, 2,5km südöstlich von Anykščiai)
https://kehilalinks.jewishgen.org/anyksciai/index.htm (reichhaltige Webseite mit Fotos u.a.)