Der Widerstand im Ghetto gegen den täglichen Terror – Kontrollen, Wohnungsnot, Hunger, Zwangsarbeit, Krankheit, Deportationen und Mordaktionen – manifestierte sich auf zwei eng miteinander verflochtenen Ebenen: als kulturelle Selbstbehauptung und als bewaffneter Widerstand.

Kulturelle Selbstbehauptung
Widerstandskraft entwickelte sich nicht zuletzt in Gestalt eines Netzwerks kultureller Einrichtungen. Künstler, Schriftsteller, Lehrer, Wissenschaftler, Ärzte und Musiker leisteten einen großen Beitrag, indem sie mit Projekten für Erwachsene, Jugendliche und Kinder das Bewusstsein jüdischer Identität lebendig hielten. Schulen wurden gegründet, Ärzte bauten ein Basissystem der Gesundheitsversorgung auf, in drei Synagogen fanden Gottesdienste statt. Einen herausragenden Ausdruck fand diese kulturelle Selbstbehauptung inmitten des täglichen Terrors im Aufbau der Ghetto-Bibliothek und des Ghetto-Theaters.

 

Ehemalige Ghetto-BibliothekJung Wilne Mitglieder vor 1941 (Heuberger)Unter der Federführung von Herman Kruk entstand im Ghetto eine Bibliothek, die zum Kultur-, Begegnungs- und Bildungszentrum wurde. Im Dezember 1942 konnte die Bibliothek die Ausleihe des 100.000sten Buchs feiern. In der Bibliothek bot die „Vereinigung der Künstler und Literaten“, der über hundert Schriftsteller, Musiker, Schauspieler und Maler angehörten, Veranstaltungen, Lesungen und Ausstellungen an, der „Wissenschaftliche Kreis“ lud zu Vorträgen ein. Die „Papier-Brigade“, zwangsverpflichtet für den Raubzug des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg (Litauen) rettete wertvolle Dokumente, wissenschaftliche Werke, Bücher und Kultgegenstände aus dem Gebäude des ehemaligen Jüdischen Wissenschaftlichen Instituts (YIVO). Schulbücher für den Unterricht, Noten- und Textblätter für Konzerte und Theateraufführungen wurden ins Ghetto geschmuggelt, die geretteten Kunst- und Kulturgegenstände im Ghetto versteckt; im Ghetto selbst entstandene Kunstwerke wurden auch ausgestellt.Einen kulturellen Höhepunkt stellte die Kunstausstellung dar, die im März 1943 im Ghetto-Theater u.a. mit Zeichnungen des damals neunjährigen Samulel Bak, des später international berühmten Malers, eröffnet wurde. Besonders aktiv war die vor dem Krieg bereits gegründete Künstlergruppe „Jung Wilne“, der u.a. Abraham Sutzkever, Shmerke Kaczerginski, Rahel Sutzkever u.a. angehörten. Ein Ghetto-Verlag druckte ihre Werke, ihre öffentlichen Lesungen fanden großen Anklang. Es gab Preise für Lyrik, Belletristik, Drama, Musik und darstellende Kunst, es gab aber auch Kritik und Misstrauen gegen diesen Kunstbetrieb im Ghetto, da er von Jakob Gens, dem Ghetto-Chef, als Mäzen und von Mitgliedern der jüdischen Ghettopolizei gefördert und organisiert wurde. 

 

 

Eingang zum ehemaligen Ghetto-TheaterVon Schauspielern, Musikern und Schriftstellern unterstützt, gründete Israel Segal, der ehemalige Direktor des Theaters in Kaunas, das Ghetto-Theater. Der bekannte Dirigent Jakob Gerstein gründete einen Schülerchor, Wolf Durmaschkin, ein Dirigent aus Warschau, führte mit einem Orchester Symphoniekonzerte auf. Das Theater im Auditorium eines ehemaligen Gymnasiums mit seinen 300 Sitzplätzen war für alle Aufführungen ausverkauft. Die Ankündigung des ersten Konzerts hatte noch einen Sturm der Entrüstung ausgelöst: „Auf einem Friedhof spielt man kein Theater“ (Beinfeld). Trotzdem wurden das Theater, die Aufführungen und Konzerte zum Ort von Erholung und Freude. Nicht selten gehörten zu den Besuchern auch die „Mörder aller Aktionen“ (Kruk) wie Hering, Kittel und litauische Kollaborateure. Samuel Bak schrieb in seinen Erinnerungen: „Ich kann mir heute nicht erklären, warum die Nazibehörden ein solches Projekt erlaubten, obwohl es doch der in wenigen engen Straßen eingesperrten Bevölkerung so viel Freude bereitete. Es ermöglichte die straflose Flucht aus der trübseligen Wirklichkeit in imaginäre Welten des Vergnügens und des Schauspiels. Diese Ablenkung erklärt, warum das Theater, der Chor und das Kabarett so populär wurden.“

 

Skulptur Flame of Hope

Der Schriftsteller Abraham Ajsn beschrieb 1950 das damalige Lebensgefühl der Ghetto-Bevölkerung folgendermaßen: „Aber die Kunst, die Schule, das Theater und der soziale Gedanke hielt diese zum Tode verdammten Menschen am Leben und ließ den sterbenden Funken des Lebens in ihnen wieder aufflackern! .... Und dass die Menschen des Gettos (sowohl die Kulturschaffenden als auch die Konsumenten) auf diese Weise ihr geistiges und kulturelles Schaffen empfanden und erlebten, kann man an den wunderbaren Ergebnissen sehen – an der innigen Teilnahme der ansonsten innerlich gebrochenen Massen, von Jugendlichen und Kindern an kulturellen und Bildungsaktivitäten, an ihrer langsam wiedererwachenden Würde und in der zunehmenden Aktivität der Partisanen in der FPO“ (Beinfeld).

 

Gedenktafel Ghetto-TheaterGedenken
Das Gebäude der ehemaligen Bibliothek befindet sich in der Žemaitijos Straße 4. An das Ghetto-Theater erinnert eine Tafel am Gebäude des  ehemaligen Theaters. Heute befindet sich dort ein Puppentheater (GPS 54.67662972 25.28674000 / 54°405978'N 25°17.2044'E). Im Innenhof des ehemaligen Theaters ist die Skulptur  "Flame of Hope" den Opfern des Holocaust gewidmet. 

 


Literatur / Medien
Arad, Yitzhak: Ghetto in Flames, New York 1982, S. 296-327; Bak, Samuel: In Worte gemalt: Bildnis einer verlorenen Zeit, Weinheim u.a. 2007 (Zitat S. 57); Beinfeld, Solon: Das kulturelle Leben im Wilnaer Ghetto, in: Heuberger, Georg (Hg.): Schtarker Fun Ajsn. Konzert- und Theaterplakate aus dem Wilnaer Getto 1941–1943, Frankfurt/M., 2002, S. 138ff. (Zitate S. 140, S. 187, Foto Jung Wilne S. 123); Dieckmann 2011, Bd. 2, S. 1149ff.; Heuberger, Georg (Hg.): Schtarker fun Ajsn. Konzert- und Theaterplakate aus dem Wilnaer Ghetto, Frankfurt/M. 2002; Guzenberg, Irina: Vilnius. Sites of Jewish Memory. A Concise Guide, Vilnius 2013, S. 53; Kruk, Herman: The Last Days of the Jerusalem of Lithuania. Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939–1944, hrsg. von Benjamin Harshav, New Haven u.a. 2002, S. 174ff. (Zitat S. 183); Kostanian-Danzig, Rachel: Spiritual Resistance in the Vilna Ghetto, Vilnius 2002; Schröter, Gudrun: Worte aus einer zerstörten Welt. Das Ghetto in Wilna, St. Ingbert 2008; Sutzkever, Abraham: Wilner Ghetto 1941–1944, Zürich 2009, S. 51ff.; Triendl, Miriam: Leben in der Abwesenheit. Die Erinnerungen an das Gute undSchöne im Elend des Ghettolebens, in: Bartusevičius u.a. (Hg.): Holocaust in Litauen, 2003, S. 156-170

http://www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/music/vilna.asp
http://www.untilourlastbreath.com/Bart4ghettofacts.html
http://www.revilna.org/map.html
http://holocaustmusic.ort.org/places/ghettos/vilna/
http://www.musiques-regenerees.fr/GhettosCamps/