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Międzyrzecz / Meseritz-Obrawalde

Miedzyrzecz

Klinik, ca. 1910; hist. Foto: gedenkort-t4.euDer Ort
Das Städtchen, 88 km östlich von Frankfurt an der Oder, 17.667 Einwohner*innen (2010), lag als Meseritz bis 1945 auf deutschem Gebiet, in der Mark Brandenburg. 1945 wurde es polnisches Staatsgebiet. Seit 1904 gab es im Vorort Obrawalde (poln: Obrzyce) eine preußische Klinik für psychisch Kranke („Irrenanstalt“). Sie wurde ab 1939 und verstärkt ab 1942  für die Tötung kranker und behinderter Menschen genutzt (vgl. Aktion T4 und Krankenmorde).


Nervenheilanstalt Meseritz-Obrawalde
Sie wurde ab 1904 auf einem weitläufigen, parkähnlichen Gelände gebaut, mit Klinik- und Verwaltungsgebäuden, Werkstätten; Pavillons für die körperlich und geistig behinderten Patienten. Später kamen u.a. ein Geburtshaus, eine Frauenklinik und ein Altersheim hinzu sowie Pavillons für die Patient*innen. 1939 waren etwa 900 Patienten untergebracht.
1938 wurde nach einer Gebietsreform der Provinzialverband Pommern für die Anstalt zuständig, die Aufsicht hatte jetzt der Oberpräsident der Provinz und NSDAP-Gauleiter Schwede-Coburg, ein alter Weggefährte von Hitler und Himmler. Er schlug Himmler ein Geschäft vor: Er ließ pommersche Heilanstalten von „Geisteskranken“ räumen und stellte die Gebäude der Waffen-SS (so in Stralsund) oder als Wohnungen für baltendeutsche Flüchtlinge zur Verfügung.


Blick ins Klinikgelände (2021)„Euthanasie in Pommern und Westpreußen“ (Ernst Klee) beginnt vor und unabhängig von der Aktion T4“. Im Oktober 1939 wurden die Anstalten in Lauenburg/Hinterpommern (poln.: Lębork/Woiwodschaft Pommern), Stralsund, Treptow, Ueckermünde geschlossen, die Patienten nach Neustadt/Westpreußen (poln.: Wehjerowo/Woiw. Pommern) deportiert und im Wald von Piaschnitz (poln: Piasznice) erschossen - von Männern des „Selbstschutzes“ und des SS-Sturmbanns Eimann). Bis 1941 wurden zahlreiche Patienten aus Berliner und anderen Anstalten nach Obrawalde gebracht, von dort in andere Anstalten „verlegt“ und dort bzw. in den Wäldern bei Kościan (dt.: Kosten) im annektierten Warthegau getötet. Zu diesen Patientenmorden vgl. Stichwort „Krankenmorde im besetzten Polen.“

Tötungsanstalt ab 1942
Ab Mitte 1942 wurde auf Weisung des NS-Gauleiters Schwede-Coburg die Anstalt unter dem neuen Klinikdirektor Walter Grabowski in eine Tötungsstätte umgewandelt. Die ankommenden Patienten wurden bei ihrer Ankunft untersucht und selektiert: Arbeitsfähige mussten Zwangsarbeit leisten. Die anderen wurden systematisch mit einer Überdosis von Medikamenten (z.B. Veronal, Morphium oder Skoloplamin) umgebracht. Sie wurden in ein „Untersuchungszimmer“ geführt, in dem zwei Schwestern tätig waren. Die Medikamente bekamen sie vom T4-Arzneimitteldienst in Berlin.

Die Patienten kamen mit Zügen aus Anstalten im Reichsgebiet, vor allem aus Berlin, Nord- und Westdeutschland – Klee, a.a.O., S. 408, nennt etwa 40 Orte/Anstalten. Diese Anstalten benutzten Obrawalde, um nach dem – vorgetäuschten Ende der Aktion T4 - die Menschen mit Behinderung „loszuwerden“. Zeitweise kamen bis zu zwei Waggons in der Regel mit 300  Patienten wöchentlich auf einem Nebengleis in Obrawalde an. Darunter waren auch Patienten aus Polen, der Sowjetunion sowie Kriegsgefangen aus Belgien, den Niederlanden, Frankreich und der Tschechoslowakei. Gleich nach der Ankunft wurden sie 'selektiert', die nicht Arbeitsfähigen wurden binnen weniger Tage getötet.

Über die Gesamtzahl der getöteten kranken und behinderten Menschen gibt es keine Aufzeichnungen. Die Sterbebücher der Anstalt nennen 6.991 Todesfälle. Die Angaben sind mit Sicherheit nicht vollständig. Schätzungen sprechen von bis zu 10.000 und mehr Ermordeten.

Befreiung
Beim Heranrücken der Front setzte sich das Personal ab und evakuierte auch einen Teil der Patienten in Richtung Westen. Direktor Grabowski gilt seit dem 29. Mai 1945 als verschollen. Eine Ärztekommission der Roten Armee führte im Februar 1945 eine gründliche Untersuchung durch. Sie fand noch etwa 1.000 Patienten vor, über 3.000 Ampullen mit Morphium etc., einen Raum mit einigen tausend Urnen sowie ein halbfertiges Krematorium. Auf dem Klinikfriedhof entdeckten sie zwei Gräber, die mit Leichen zugeschüttet waren, sowie Massengräber. Der letzte Eintrag im Sterberegister datierte vom 30.1.1945. Eine Stichprobe bei 2260 im Jahr 1943 gestorbenen Patienten ergab: 98,5 Prozent waren Deutsche (vgl. Klee I, S.401ff.; Klee II, S. 306ff.). Am 1.7.1945 übernahmen polnische Behörden die Anstalt.

Strafverfahren
Ein sowjetisches Kriegsgericht verurteilte die Oberpflegerin A. Ratajczak, die nach eigenen Worten etwa 2.500 Patienten getötet hatte, und den Pfleger H.Guhlke zum Tode; sie wurden anschließend erschossen. Die Ärztin Dr. Wernicke und die Pflegerin Wieczorek,die hunderte Anstaltsinsassen in Obrawalde mit Spritzen oder Medikamenten getötet haben, wurden 1946 zum Tode verurteilt; die Tötung unheilbar (Geistes-)Kranker sei Mord (so das Schwurgericht Berlin am 25.3.1946,  bestätigt vom Kammergericht Berlin; in: Rüter (Hg.), a.a.O., Band I, S. 33 ff.).
20 Jahre später wurden 14 ehemalige Krankenschwestern/Pflegerinnen der Anstalt Obrawalde freigesprochen, die bei der Tötung von behinderten Menschen durch Medikamente oder Spritzen beteiligt waren. Argument des Gerichts war u.a.: Viele hätten an das Vorliegen eines Gesetzes geglaubt und hätten von dessen Rechtmäßigkeit ausgehen können (Landgericht München I, Urteil vom 12.3.1965, in: Rüter, a.a.O., Band XX, Nr. 587, S. 695 ff.). „Die bundesdeutsche Rechtsprechung war bis tief in die 1970er-Jahre bis hinauf zum Bundesgerichtshof davon geprägt, die Morde teilweise für moralisch gerechtfertigt zu halten bzw. die daran direkt oder indirekt beteiligten Ärzte und das Pflegepersonal von jeder juristischen Schuld freizusprechen“, so Ingo Loose, a.a.O.

Denkmal für die Opfer von NS-Krankenmorden Mahnmal auf dem Friedhof

Erinnerung, Gedenken
Heute befindet sich auf dem Gelände eine Nerven- und psychiatrische Klinik: Samodzielny Publiczny Szpital dla Nerwowo i Psychicznie Chorych w Międzyrzeczu. Im Verwaltungsgebäude wurde 1973 eine Ausstellung eröffnet. Sie kann – nach Voranmeldung – besichtigt werden.

1966 wurde auf dem Anstaltsgelände in der Nähe des Verwaltungsgebäudes ein Denkmal errichtet. Auf dem Friedhof der Anstalt im benachbarten Wald findet jährlich auf einem kleinen Platz neben einem Mahnmal eine Gedenkfeier statt.

Anschrift: Samodzielny Publiczny Szpital dla Nerwowo i Psychicznie Chorych w Międzyrzeczu, ul. Poznańska 109, 66-300 Międzyrzecz.

Literatur/Medien
Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt/M. 1985, bes. S. 95ff., 401ff.
Klee, Ernst (Hg.): Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt/M. 1965 (zitiert: Klee II)
Loose, Ingo: Aktion T4. Die „Euthanasieverbrechen im Nationalsozialismus 1933-1945 = https://www.gedenkorte-t4-eu/de/wissen/aktion-t4
http://www.deathcamps.org/euthanasia/obrawalde_de.html https://www.memorialmuseums.org/denkmaeler/view/1441/Denkmal-f%C3%BCr-die-Opfer-von-NS-Krankenmorden-in-Meseritz-Obrawalde# http://www.holocaustresearchproject.org/euthan/Meseritz-Obrawalde.html   https://de.wikipedia.org/wiki/Heil-_und_Pflegeanstalt_Obrawalde  https://de.wikipedia.org/wiki/Mi%C4%99dzyrzecz 

 

(2021 – Uhh)