Region Piemont / Provinz Cuneo
Das Tal
Das Valle Gesso liegt in den piemontesischen Seealpen direkt an der italienisch-französischen Grenze. Die Hochlagen des Tales gehören zum Naturschutzgebiet Parco naturale delle Alpi Marittime. Von der Provinzhauptstadt Cuneo aus ist das Valle Gesso über die Strada Provinciale SP 20 bis Borgo San Dalmazzo, weiter auf der SP 22 bis Valdieri zu erreichen. Um zum Colle di Finestra zu gelangen, folgt man dieser Straße über Entracque weiter bis San Giacomo (30 km ab Cuneo); von dort führt ein Wanderpfad zum Pass. Um zum Colle di Ciriega zu gelangen, fährt man weiter auf der SP 239 bis Terme di Valdieri (32 km ab Cuneo); dort weiter auf Schotterpiste bis Pian della Casa, wo ein Wanderweg zum Pass beginnt.
Das Ereignis
Über zwei verschiedene Wege flüchteten zwischen dem 9. und 13. September 1943 etwa 800 Juden unterschiedlichster Nationalitäten vor den aus dem Süden vordringenden Deutschen aus dem südfranzösischen Saint-Martin-Vésubie über den Alpenhauptkamm nach Italien. Die meisten nahmen den Weg über den Colle di Finestra (2.474 m), die anderen über den Colle di Ciriegia (2.543 m), und gelangten so in das Valle Gesso.
Am 12. September 1943 marschierten die Deutschen jedoch auch in diese Region ein und besetzten die italienischen Stellungen. Ca. 350 der jüdischen Flüchtlinge aus Saint-Martin-Vésubie wurden gefangen genommen und in einer leer stehenden Kaserne in der Nähe des Bahnhofs von Borgo San Dalmazzo festgesetzt, die auf deutschen Befehl als Konzentrationslager eingerichtet worden war. Die Leitung dieses Lagers lag bei der Waffen-SS. Im November 1943 wurden 329 dieser Häftlinge in Viehwaggons verladen und über Nizza und das Lager Drancy bei Paris nach Auschwitz deportiert. Lediglich 18 von ihnen haben überlebt.
Hintergrund
Ab Februar 1943 wiesen die Italiener im französischen Département Alpes-Maritimes (einem der 10 Départements, aus denen die italienische Besatzungszone seit Ende 1942 bestand) ausländischen Juden Wohnorte als Zwangsaufenthalt zu, wie sie es auch in ihrem eigenen Staatsgebiet seit dem Kriegseintritt 1940 praktizierten. Sie reagierten damit auf sich verschärfenden Druck der Deutschen und des Vichy-Regimes, widersetzten sich aber weitergehenden Forderungen. Das gewährte den dort lebenden Juden Schutz vor der Deportation in die deutschen Vernichtungslager.
Einer dieser Zwangsaufenthaltsorte war Saint-Martin-Vésubie (F), wo Anfang September 1943 ca. 1.200 Juden unterschiedlichster Nationalitäten lebten. Nach dem Kriegsaustritt der Italiener am 8. September 1943 und dem fluchtartigen Rückzug der 4. italienischen Armee, erschien die Flucht über die Alpen als einzige Rettungsmöglichkeit vor den Deutschen. Die in Saint-Martin-Vésubie verbliebenen Juden wurden von den am 17. September 1943 in den Ort einrückenden Deutschen verhaftet und deportiert.
Gedenken
Vor 15 Jahren wurden die Gedenkwanderungen „Attraverso la memoria/ Marche de la mémoire“ ins Leben gerufen, unterstützt und begleitet werden sie vom Istituto storico della Resistenza in Cuneo, der Associazione Giorgio Biandrata in Saluzzo, der Association pour la Mémoire des Enfants Juifs Déportés des Alpes-Maritimes, Yad Vashem Nizza uvm. Jeweils am ersten Sonntag im September treffen sich auf einem der beiden Pässe Franzosen, Italiener und Nachfahren der Flüchtlinge.
Das italienisch-französisch-schweizerische Gemeinschaftsprojekt „La Memoria delle Alpi / La Mémoire des Alpes / Gedächtnis der Alpen“‚ das sich u.a. zur Aufgabe gesetzt hat, politische und rassistische Verfolgungen, Kriegsereignisse sowie geistige und militärische Widerstandsbewegungen, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, hat diese Fluchtwege über den Colle di Finestra und den Colle di Ciriegia als Freiheitspfade‚ als „Percorsi Ebraici“ ausgewiesen. Entlang der beiden Wanderwege sind große Hinweistafeln aufgestellt, die über die historischen Hintergründe informieren. Kurz unterhalb der beiden Pässe sind Gedenktafeln angebracht, die auf die Geschehnisse hinweisen:
„Per questo colle, nel settembre 1943, centinaia di ebrei di tutte europa cercarono molti invano la salvezza dalla persecuzione antisemita. Tu che passi libero ricorda che questo è stato ogni volta che accetti che un altro abbia meno diritti di te.“
“Im September 1943 versuchten hunderte von Juden aus ganz Europa, häufig vergeblich, sich über diesen Pass vor der antisemitischen Verfolgung zu retten. Du, der Du Dich frei bewegen kannst, bedenke, dass das geschehen ist, immer wenn Du tolerierst, dass jemand anderes nicht die gleichen Rechte hat wie Du.”
Mit dem 1996 errichteten, eindruckvollen Denkmal (Memoriale della Deportazione) am Bahnhof erinnert die Stadt Borgo San Dalmazzo an die Opfer.
Literatur / Medien:
Voigt, Klaus: Zuflucht auf Widerruf – Juden und andere Verfolgte des Hitlerregimes in Italien 1933–45, Stuttgart 1993, Band 2, S. 241-274; Touring Club Italiano (Hg): I Sentieri della Libertà. Piemonte e Alpi occidentali. 1938–1945. La Guerra, la Resistenza, la persecuzione razziale. A cura di Livio Berardo, Mailand 2007, S. 197f.; Bologna, Piermario (Hg.): I Sentieri della Libertà in provincia di Cuneo, Cuneo 2007; www.resistenza.eu/fluchtweg-juden-seealpen; www.memoriadellealpi.org