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Sant'Anna di Stazzema

Region Toskana / Provinz Lucca

Kirche von Sant'Anna (notiziemigranti)Der Ort
Das aus mehreren Ortschaften bestehende Bergdorf und die dortige Gedenkstätte in den Apuanischen Alpen oberhalb der Marmorbrüche um Massa und Carrara sind am besten von der Via Aurelia aus zu erreichen: von Pietrasanta über Monteggiori-La Culla.

Monumento Ossario (Foto: Baldini)Die Ereignisse
Am 12. August 1944 richteten in Sant’Anna di Stazzema Einheiten der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer-SS“ ein Blutbad an, dem in den verschiedenen Siedlungen des Dorfes über 500 Zivilpersonen zum Opfer gefallen sind, unter ihnen fast ausschließlich ältere Menschen, Frauen und viele Kinder, das jüngste gerade 20 Tage alt.

 

Eine genaue Zahl der Opfer ist auch Jahrzehnte nach der Mordaktion nicht zu nennen. Hintergrund für das Massaker, nach Marzabotto das zweitgrößte an italienischen Zivilisten, bildete die brutale Partisanenbekämpfung durch Wehrmacht und SS während der Sommermonate 1944 in dieser Region, die nach der Aufgabe Mittelitaliens einerseits die Westflanke der „Gotenlinie“, der deutschen Verteidigungsstellung quer über den Apennin, bildete, gleichzeitig aber zu einem zentralen Gebiet des bewaffneten italienischen Widerstands geworden war. Bei den deutschen Truppen hatte sich auf der Grundlage der völkerrechtswidrigen Befehle zur sog. „Bandenbekämpfung“ der Grundsatz „Zivilist ist gleich Partisan“ durchgesetzt. Zu der Bevölkerung Sant’Annas – in Friedenszeiten ungefähr 300 Menschen – waren damals einige Hundert Flüchtlinge aus der Küstenregion gekommen, die vor den Luftangriffen der Alliierten auf die Städte zwischen Viareggio und Carrara und die dortige Industrie Schutz suchten.


Am Morgen dieses 12. August rückten von Pietrasanta her SS-Einheiten der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer-SS“ unter dem Komnando von Anton Galler und Walter Reder auf die Siedlungen von Sant’Anna vor, Einheiten der Wehrmacht – vermutlich das Bataillon der Gebirgsjäger Mittenwald – sperrten das Gebiet ab. In den Tagen vorher war es zu Schusswechseln mit Partisanen oberhalb des Dorfes gekommen, weshalb der Kampfeinsatz angeordnet wurde. Die Angreifer verteilten sich auf die Ortschaften des Dorfes. Dort trieben sie die Bewohner der Häuser auf Sammelplätze, in Stallungen und Hinterhöfe und ermordeten sie mit Handgranaten und Feuerwaffen. In Sant’Anna selbst wurden die Dorfbewohner vor der Dorfkirche mit Maschinengewehrfeuer niedergemäht. Die meisten Häuser der Siedlungen wurden niedergebrannt. Das Massaker war am Nachmittag noch nicht beendet: Überlebende, die als Lastträger herhalten mussten, wurden talabwärts nach Valdicastello getrieben und dort erschossen, im Ort selbst wurden nach einer Razzia über dreihundert Zivilisten umgebracht. Ein Teil der Gruppe mit über zweihundert Gefangenen kam in ein Arbeitseinsatzlager nach Lucca, der zweite in ein Lager der Division bei Nozzano, wo sie misshandelt und getötet wurden, weitere 53 wurden als Geiseln verschleppt und später bei einer Mordaktion in Bardine San Terenzo am 19. August 1944 umgebracht. Die erhalten gebliebenen deutschen Tagesmeldungen berichten von einem „Bandenunternehmen“, bei dem Munitionslager gesprengt und „270 Banditen“ getötet worden seien.

Gedenktafel für Don Innocenzo Lazzeri (Foto: Baldini) Steinrelief an einem Gedenkstein (Foto: Baldini) Tafel an der Kirche (Foto: Baldini)

Gedenken
„Parco Nazionale della Pace“ und Museum 

Der gesamte Bereich des Gedenkortes wurde im Jahr 2000 zum „Parco Nazionale della Pace“ erklärt. Er umfasst die Kirche von Sant’Anna und deren Vorplatz, auf dem am 12. August 1944 mehrere Hundert Menschen niedergeschossen worden sind, und das den Opfern gewidmete Museum (www.santannadistazzema.org, E-Mail: [email protected])

Gedenkstein auf dem Kirchenvorplatz Innenraum des Museums von Sant'Anna

 

Denkmal Mutter mit Kind

Ossario
Von  dem Museum führt ein Kreuzweg durch den Wald hinauf zum Hauptdenkmal, dem Monumento Ossario, einem Turm, in dessen offenem Gewölbe ein Marmorsarkophag mit der Gestalt einer ermordeten Mutter mitihrem Kind dargestellt ist. Neben dem Ossario stehen auf einer Tafel Namen und Alter der Opfer.

Friedensorgel
Die von Maschinengewehrsalven zerstörte kleine Orgel der Kirche von Sant’Anna – sie erklang letztmals am Tauftag des jüngsten Opfers Anna Pardini – konnte am 29. Juli 2007 wieder feierlich in Betrieb genommen werden: Die auf Initiative des Essener Musiker-Ehepaares Maren und Horst Westermann gegründete ‚Deutsch-Italienische Gesellschaft Freunde der Friedensorgel Sant’Anna di Stazzema/ Associazione italo-tedesca Amici dell’organo della pace di Sant’Anna di Stazzema‘ hatte dafür mit Hilfe von Benefizkonzerten Spenden gesammelt und führt seitdem jeden Sommer eine Konzertreihe durch (friedensorgelsantanna.italienfreunde.de/).

"Das zweite Trauma - das ungesühnte Massaker von Sant´Anna di Stazzema"
Der Dokumentarfilm „Das zweite Trauma - das ungesühnte Massaker von Sant´Anna di Stazzema" (Deutschland 2016, 72 min.) von Jürgen Weber zeichnet das Kriegsverbrechen, auf das das zweite Trauma, die in Italien verspätete, in Deutschland verhinderte juristische Aufarbeitung folgte, nach. Im Film kommen neben Zeitzeugen auch der Historiker Dr. Carlo Gentile und die Opferanwältin Gabriele Heinicke zu Wort, die die Berichte mit Hintergrundinformationen wissenschaftlich und juristisch einordnen ("Das zweite Trauma", mit Trailer).


Namen der Opfer von Sant'Anna

Nach 1945
1951 wurde der frühere SS-Sturmbannführer Walter Reder zwar wegen des Massakers in Marzabotto und anderer Kriegsverbrechen verurteilt, aus Mangel an Beweisen jedoch nicht wegen der Mordtaten in Sant’Anna. Wichtige Beweisstücke mit Namen von beteiligten SS-Angehörigen waren später im „Schrank der Schande“ bis zu ihrer Wiederentdeckung Mitte der 1990-er Jahre verschwunden. Die Staatsanwaltschaft beim Militärgericht La Spezia nahm 1994 Ermittlungen auf, lokale Medienberichte blieben ohne Resonanz. Erst ein ausführlicher Bericht von Christiane Kohl im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ im Oktober 1999 fand in Italien und Deutschland starke Beachtung. Das Militärgericht La Spezia hat nach jahrelangen Ermittlungen, zu denen der Historiker Carlo Gentile mit wesentlichen Archivrecherchen beigetragen hat, 2005 zehn angeklagte SS-Angehörige in Abwesenheit wegen Mordes an 560 Zivilpersonen zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Urteil wurde vom Revisionsgericht in Rom im November 2006 bestätigt. Es blieb in Deutschland bis heute ohne Folgen. 

Der italienische Staatanwalt Marco De Paolis, Ermittler und Ankläger im Strafprozess wegen der Verbrechen in Sant' Anna di Stazzema vor dem Militärgericht in La Spezia (2010), kommentierte die Einstellung des Ermittlungsverfahrens in Stuttgart (2012) mit Unverständnis: "Die deutschen Kollegen glauben nicht, dass es Mordmerkmale gibt, und vor allem gehen sie nicht davon aus, dass die Leute, die die Taten begangen haben, schon im Vorhinein die Intention hatten, das zu tun, was sie getan haben; also vorsätzlich gehandelt haben. Das ist meiner Meinung nach falsch und steht im Gegensatz zu unseren Ermittlungen ... (Der einstellende deutsche Staatsanwalt - Red.) müsste erklären, wie es möglich ist, dass mehr als 400 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, in zwei Stunden umgebracht werden von Personen, die das spontan beschlossen haben, und wie es sein kann, dass eine komplette Abteilung sich in der Nacht zuvor in Bewegung setzt, um diese Aktion durchzuführen..." (Interview in: Kontext-Wochenzeitung, 29./30.2012, S. 3).

Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft ermittelte seit 2002 gegen ehemalige Angehörige der damals beteiligten SS-Einheiten. Im Oktober 2012 wurde das Verfahren eingestellt, da den Beschuldigten nach Auffassung der Staatsanwaltschaft keine individuellen Straftaten nachgewiesen werden konnten – damit sollte nach Ansicht der Stuttgarter Ermittler eines der schwersten Kriegsverbrechen aus der deutschen Besatzungszeit von der deutschen Justiz ungesühnt bleiben.

Der Opferverband Sant‘Anna hat gegen die Einstellung des Verfahrens durch die Stuttgarter Staatsanwaltschaft vom Oktober 2012 Beschwerde bei der Stuttgarter Generalanwaltschaft eingelegt und stützte sich dabei auf ein Gutachten von Carlo Gentile, dem an der Universität Köln tätigen, in Fragen deutscher Kriegsverbrechen in Italien ausgewiesenen Historiker. Gentile legt, so ein Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 15. April 2013, in dem Gutachten im Einzelnen dar, dass die Ermittler wichtige Dokumente überhaupt nicht berücksichtigt, historische und geographische Daten übergangen und die Mordtaten von Sant‘Anna als isoliertes Ereignis und nicht im Zusammenhang der „Blutspur“ betrachtet habe, die die SS-Einheit „Reichführer SS“ durch Italien gezogen habe. Dessenungeachtet wurde die Einstellung des Verfahrens im Mai 2013 durch die Generalstaatsanwaltschaft bestätigt.
Im daraufhin durch den Opferverband Sant‘Anna eingeleiteten Klageerzwingungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Karlsruhe wurde für den an den Taten beteiligten Kompanieführer des II. Bataillons des 35. Panzergrenadier-Regiments der 16. SS-Panzerdivision “Reichsführer SS” Gerhard Sommer (93) am 5. August 2014 der Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft Stuttgart aufgehoben und der Fall zur Wiederaufnahme der Ermittlungen an die nun zuständige Staatsanwaltschaft Hamburg verwiesen (AZ: 3 Ws 285/13). Anders als die Staatsanwaltschaft Stuttgart sah das OLG Karlsruhe „hinreichenden Tatverdacht“ gegen den Beschuldigten.

Im Mai 2015 stellte die Staatsanwaltschaft Hamburg das Ermittlungsverfahren jedoch ein, da der Beschuldigte zwar „mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen grausamen und aus niedrigen Beweggründen begangenen Mordes in 342 Fällen anzuklagen wäre“, er jedoch aufgrund einer Demenzerkrankung dauerhaft verhandlungsunfähig sei. Damit bleibt auch dies NS-Massaker ungesühnt.

Literatur / Medien:
Andrae, Friedrich: Auch gegen Frauen und Kinder, München 1995, S. 207 ff.; Gentile, Carlo: Sant Anna di Stazzema 1944. In: Ueberschär, Gerd R.: Orte des Grauens, Darmstadt 2003, S. 231 ff.; Heinecke, Gabriele / Kohl, Christiane / Westermann, Maren (Hg.): Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema, Hamburg 2014; Kohl, Christiane:  Der Himmel war blau, Wien 2004, S.80 ff.; Schreiber, Gerhard:  Deutsche Kriegsverbrechen in Italien, München 1996, S. 184 f.; Simonis de, Paolo: 3. Guida ai luoghi delle stragi nazifasciste in Toscana, o.O. 2004, S.133–145 (mit Wanderkarte); Weber, Jürgen: Ein Oberstaatsanwalt ist kein Richter, in: Antifa-Nachrichten Nr. 4/2012, VVN-BdA Baden-Württemberg, S. 9 ff.
www.santannadistazzema.org
resistenzatoscana.org/storie/le_stragi_di_sant_anna_di_stazzema
resistenzatoscana.org/monumenti/stazzema/ossario_di_sant_anna_di_stazzema/ (4 Fotos: Baldini)
www.wsws.org/de/articles/2004/sep2004/ita1-s03.shtml
www.sueddeutsche.de/politik/ns-verbrechen-in-italien-spuren-in-deutsche-seniorenheime-1.1649046
www.woz.ch/1313/nazimassaker/billige-entschuldigung
www.resistenza.eu/anklage-massaker-sant-anna-di-stazzema/ 
www.regione.toscana.it/-/comune-di-stazzema-lu-1
www.regione.toscana.it/-/comune-di-stazzema-lu-2
www.anpi.it/luoghi-di-memoria/3/il-museo-di-santanna-di-stazzema
https://www.notiziemigranti.it/2018/08/10/santanna-di-stazzema-74-anniversario-strage-programma/ (Foto Kirche)