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Angers


Region Pays de la Loire, Departement Maine-et-Loire

Sitz polnischer Exilregierung/General Sikorski; Quelle: fracademic.comAnkunft der polnischen Exilregierung, Tafel im BahnhofDer Ort
Hauptstadt des Departements Maine-et-Loire, 151520 Einwohner/innen (2015), historische Hauptstadt des Anjou. Bahnhof: TGV Paris↔Nantes; mit dem Auto von Nantes 90 km (A 11 – Maut), von Paris 300 km (A 11 – Maut).

Die Ereignisse 

Sitz der polnischen Exilregierung
Von November 1939 war Angers Sitz der polnischen Exilregierung unter General Sikorski im damaligen Hotel de la Morinière, Boulevard Foch Nr. 74. Der polnische Präsident Władysław Raczkiewicz bezog später das Schloss Pignerolle im nahen Saint-Barthélémy-d'Anjou. Nach der deutschen Invasion im Juni 1940 verlegte die Exilregierung ihren Sitz nach London.

Große deutsche Garnison
Gedenktafel Judendeportation im BahnhofAngers wurde im Juni 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Die Kommandantur war zuständig für gesamt Westfrankreich, die Marine hatte zeitweise ihren Sitz hier. Einige weitere Ämter etc. mit fast 6000 Bediensteten waren in Angers. Die Mitte 1942 für die Verfolgung von Widerstand und Deportation von Juden zuständige SiPo-SD („Gestapo“) beschäftigte mehrere Dutzend Deutsche und 70-80 französische Hilfskräfte. 

Gedenktafel im Hof des (ehem.) Grand SéminaireJudendeportation
Nach einer Razzia am 15. – 17. Juli 1942 in den westlichen und südwestlichen (besetzten) Departements wurden über 800 jüdische Menschen im Grand Seminaire in Angers festgehalten. Am Abend des 20. Juli 1942 verließ der Transport Nr. 8 mit 430 Frauen, 394 Männern und 120 Kindern den – abseits liegenden – Bahnhof am Quai du Maroc. Er kam am 23. Juli 1942 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau an, etwa 20 wurden sofort vergast. Zwanzig Menschen haben überlebt. Erstes Gedenken war am 20. Juli 1992 am Grand Séminaire.
Es war der einzige von sechs zwischen Eichmann und Dannecker für Juli 1942 verabredeten Transporte. Der zuständige Kommandeur der Sicherheitspolizei, SS-Hauptsturmführer Hans-Dietrich Ernst, war bei der Judenverfolgung besonders aktiv. In dem Zug waren auch etwa 200 französische Juden, die nach den dt.-frz. Abkommen nicht hätten deportiert werden dürfen (vgl. Klarsfeld, S. 412).

Widerstand und Repression 
Widerstand manifestierte sich zunächst in Nachrichtendienst, Fluchthilfe sowie Verbreiten von Flugblättern; er verstärkte sich nach der Kriegswende (Stalingrad, 2. Februar 1943), der Deportation junger Männer zur STO-Zwangsarbeit in deutschen Rüstungsbetrieben und den Vorbereitungen auf die alliierte Landung in der Normandie (6. Juni 1944). Auch die Bekämpfung der Résistants und die Verfolgung der Juden wurde intensiver, auch weil seit Mitte 1942 Gestapo und SS dafür zuständig wurden und frz. Spezialpolizeien – wie die SPAC – ihre Arbeit aufnahmen. Bis November 1944 wurden im Departement 135 Patrioten erschossen und etwa 1000 deportiert.

Schülerarbeit zu Marius BriantGedenktafel Marius Briant

Das Widerstandsnetz 'Honneur et Patrie' um Victor Chatenay (1886 – 1985) arbeitete ab Herbst 1940 für den britischen Intelligence Service, übermittelte u.a. Pläne über deutschen Befestigungs- und Hafenanlagen. Es hatte fast 300 Mitarbeiter/innen. Im Herbst/Frühjahr 1943/44 wurden 107 verhaftet, 89 deportiert, 47 starben. Einer war der Lehrer Marius Briant; er wurde verhaftet, nach Deutschland gebracht, gefoltert und im März 1944 in Berlin enthauptet. Eine Gedenktafel wurde 2012 an seiner ehemaligen Schule Victor Hugo eingeweiht; Schüler trugen ihr eigenes bei (26 Rue Victor Hugo).
Maurice Tardat, ab Oktober 1940 im Nachrichtendienst, arbeitete ab 1941 für das Netz Confrérie Notre-Dame / CND-Castille, das de Gaulles Geheimdienst BCRA in London unterstand. Auf dem Ostfriedhof ist ihm und dem Netz ein großes Denkmal gewidmet (129 Rue Larevellière).

Die Lehrerin und Schulleiterin Marie Talet (1884 – 1944) und fünf Kolleginnen am Collège de filles halfen Flüchtlingen und jüdischen Schülerinnen. Die Gestapo verhaftete sie im Frühjahr 1943 unter dem Vorwurf, „anti-deutsche Ideen im Unterricht zu verbreiten.“ Sie wurden in das KZ Ravensbrück deportiert. Dort ging Marie Talet am 14. Dezember 1944 an Dysenterie zugrunde; Anne-Marie Baudin wurde vergiftet oder vergast; Marthe Mourbel starb kurz nach der Befreiung am 15. Mai 1945; die anderen drei überlebten.

An der nach Marie Talet benannten Schule ehrt eine Tafel „alle Schülerinnen und Lehrerinnen, deren Mut sich in ihrem Willen zum Widerstand festigte, und alle, die Opfer der Unterdrückung und des Antisemitismus wurden“ (14 Rue du Major Allard). 2013 zierte ein Portrait Marie Talets einen Bauzaun in Angers. 

Denkmal M. Tardat, CND Castille Gedenktafel am Lycée J. de Bellay Marie Talet; Foto Lennart Barthelheimer

Gedenktafel am GefängnisGefängnis: Maison d'Arrêt du Pré-PigeonGefängnis Pré-Pigeon 
Das Maison d'Arrêt (Arresthaus) aus dem Jahre 1856 ist noch in Betrieb; ein Neubau ist für 2023 geplant. 1940 – 1944 hatten die deutschen Besatzer eine separate Abteilung. Hier wurde viele Résistants eingesperrt, verhört, gefoltert, bevor sie vom deutschen Militärgericht der FK 595 (Vorsitz: Richter Heinrich) verurteilt, hingerichtet (am Butte de Belle-Beille s.u.) oder deportiert wurden: z.B. der Lehrer Michel Muzard, 42 Jahre, aktiv in der Organisation spéciale der KPF, kam 1942 nach Angers, unter seiner Leitung entwickelte sich der kommunistische Widerstand im Departement (Sabotage der Bahnlinie Angers – Saumur, Anzünden der Futterhalle in Angers). Nach mehreren Aktionen kam die frz. „antikommunistische“ Polizei SPAC durch Aussagen eines Kameraden, die dieser unter der Folter gemacht hatte, auf seine Spur. Er wurde vom dem Militärgericht der FK 595 (Richter: Dr. Heinrich) am 9. März 1943 zum Tode verurteilt und mit zwei Kameraden am 13. März 1943 erschossen.

Auf einer Gedenktafel von 1946, links neben dem Eingangstor, ist zu lesen: „Den französischen Patrioten zum Gedenken, die von 1940 bis 1944 während der deutschen Besatzung in diesem Gefängnis eingesperrt und gefoltert wurden“ (1 Place Olivier Giran).

Gedenken

Judendeportationen 
Im Grand Séminaire, heute: Centre Sain-Jean, wurden die bei der Razzia verhafteten jüdischen Menschen vor ihrer Deportation eingesperrt. Eine Gedenktafel befindet sich im Garten des Gebäudes. Text: „Hier wurden 1942 und 1943 Männer und Frauen von den Nazis vor ihrer Deportation in die Todeslager zusammengepfercht. Am 20 Juli 1942 wurden von hier 430 Frauen und 394 Männer zum Lager Auschwitz gebracht, weil sie Juden waren.“ Jeweils am 20. Juli findet hier ein Gedenkzeremonie statt (36 Rue Barra).

Erschießungen und Deportationen 
Auf diesem weitab von Häusern im Wald versteckten Schießplatz wurden von 1942 bis 1944 über 60 Résistants aus Angers und den umliegenden Departements erschossen. Alle waren zuvor im Gefängnis Pré-Pigeon inhaftiert, wurden den Deutschen 'übergeben' und dann erschossen. Der erste im Februar 1942 – wegen „illegalen Waffenbesitzes“; am 13. Dezember 1943 neun Mitglieder der Front National (Résistance) bzw. FTP: sie hatten antideutsche Flugblätter verteilt und in einem Rathaus u.a. Stempel, Lebensmittelmarken und Schreibgeräte mitgenommen. Es waren fünf Lehramtsstudenten der École Normale in Angers (darunter Adrien Tigeot sowie Vater Julien und Sohn Gabriel Alix, Bauer bzw. Landarbeiter). 

Neben einem Gedenkstein aus schwarzen Granit sind auf einer Bodenplatte die Namen und das Alter der Erschossenen und das Erschießungsdatum eingraviert; sie werden auf der jährlichen Gedenkzeremonie Ende Oktober verlesen (Parc Saint Nicolas; ein Fußweg geht ab von Avenue de Notre Dame du Lac Nr. 58, dem Wegweiser zum Denkmal folgen).

Ehem. Grand Séminaire, Tafel Judendeportation Denkmal Schießplatz Belle-Beille Bodenplatte mit Namen u. Alter der Erschossenen, Belle-Beille

Nach 1945
Ex-Gestapochef Hans-Dietrich Ernst starb unbehelligt in Deutschland. In Frankreich war er in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden; 1983 ließ das Landgericht Aurich die Anklage wegen der Judendeportation nicht zu und stellte das Verfahren ein (Brunner, S. 177ff.; s.a. Kurzbiographie Hans-Dietrich Ernst). Sein zeitweiliger Stellvertreter in Angers, Anton Bürckle, wurde nach Verurteilung durch ein französisches Gericht begnadigt.
Mehrere französische Kollaborateure in Diensten der Gestapo wurden verurteilt. Jacques Vasseur, Chef der „Gestapo-Helfer“, tauchte unter, wurde nach seiner Entdeckung 1985 zum Tode verurteilt, begnadigt, kam 1984 frei, lebte und starb in Heidelberg; Paul Wolff wurde 1946 in Angers zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Literatur/Medien
Brunner, Bernhard: Der Frankreich-Komplex. Die nationalsozialistischen Verbrechen in Frankreich und die Justiz in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 2007
Lemesle, Michele: Chronique d'Angers sous l'occupation, Angers 1972 
ONAC Maine-et-Loire: l'Anjou pendant la Seconde Guerre mondiale, Angers
ONAC 49: Le Convoi N° 8. Une mémoire retrouvée, Angers
https://bergson.paysdelaloire.e-lyco.fr/espace-pedagogique/histoire-geographie/des-lieux-d-histoire-et-de-memoire-de-la-resistance-et-de-la-shoah-de-l-anjou-a-cracovie-2014-2/le-sort-des-juifs-de-l-arrondissement-d-angers-33585/ 
http://maitron-fusilles-40-44.univ-paris1.fr/spip.php?article149080 (u.a. Julien und Gabriel Alix)
http://maitron-fusilles-40-44.univ-paris1.fr/spip.php?article158736 (u.a. Michel Muzard)
http://www.wikiwand.com/fr/Adrien_Tigeot (u.a. Adrien Tigeot)
https://fr.wikipedia.org/wiki/Angers