Die Ereignisse
Die Mordwelle von Juli bis Dezember 1941
Die drei Jahre lang anhaltenden Massenmorde begannen am 3. Juli mit dem Eintreffen des SS-Einsatzkommandos 9 unter SS-Obersturmbannführer Alfred Filbert in Vilnius. Bereits in den Tagen zuvor hatten litauische „Aufständische“ in Vilnius Juden und Kommunisten willkürlich festgenommen und an den Gruben in Paneriai exekutiert. Die Mörder des Einsatzkommandos 9, denen Ende Juli 1941 jene des Einsatzkommandos 3 unter dessen Chef Karl Jäger folgten, machten aus den Massenmorden blutige Routine:
Das Gelände im Wäldchen und alle Zugänge waren mit Posten abgesichert, die Gruben wurden abgestützt und mit Laufgräben versehen. Die in Fußmärschen und auf Lastwagen herangeschafften Opfer, die zuvor ihre Oberkleidung ablegen mussten, wurden in Gruppen in die Gruben getrieben und erschossen. Das Kommando lag bei den SS-Angehörigen, geschossen wurde von litauischen Hilfstruppen. Im Juli 1941 wurden fast ausschließlich Männer, ab August 1941 auch Frauen, Jugendliche und Kinder umgebracht. Berichte der SS (Jäger-Bericht), Beobachtungen und Aussagen von Zeit- und Augenzeugen (u.a. Sakowicz, Schur, Sutzkever, Kaczerginski) ergeben, dass in Paneriai allein bis zum Jahresende 1941 aus Vilnius ungefähr 24.000 Juden, eine große Zahl von Polen und vermutlich auch sowjetische Kriegsgefangene exekutiert wurden.
Zwar lassen sich im Verlauf dieser sechs Monate konkrete „Anlässe“ für einzelne Mordaktionen erkennen: ein vorgetäuschter Anschlag auf deutsche Soldaten in Vilnius Ende August, „Räumung“ des für das Ghetto vorgesehenen Stadtbezirks Anfang September, „Selektionen“ bei der Ghetto-Errichtung im September sowie bei der Liquidierung des sog. kleinen Ghettos Anfang Oktober, Durchkämmung des Ghettos nach Häftlingen ohne Arbeitsscheine, Großaktionen bis Dezember – alle „Aktionen“ erfassten jeweils hunderte und tausende Opfer. Das grundlegende Ziel jedoch war immer und gleich bleibend: die Vernichtung der litauischen Juden insgesamt, dazu die „Ausschaltung“ von Polen und sowjetischen Kriegsgefangenen als Gegner der deutschen Besatzung. Mit dem Jahresende 1941 endeten vorübergehend die Massenmordaktionen, weil vor allem die Wehrmacht und die deutsche Zivilverwaltung jetzt darauf bestanden, die arbeitsfähigen Juden zur Zwangsarbeit in Bau- und Versorgungsbetrieben (u.a. Holz, Torf, Straßenbau, kriegswichtige Produktionen und Reparaturbetriebe) einzusetzen. Der geplante Blitzkrieg war gescheitert, Kriegs- und Besatzungswirtschaft verlangten nach Arbeitskräften.
Die Morde bis zur Auflösung des Ghettos im September 1943
Die vorübergehende „Beruhigung“ im Jahr 1942, die dem Arbeitseinsatz von möglichst vielen „Arbeitsjuden“ geschuldet war, bedeutete keineswegs ein Ende des Mordens. Augenzeugenberichte und erhalten gebliebene Aufzeichnungen berichten von fortgesetzten Tötungsaktionen kleinerer Gruppen von Opfern, z.B. bei Durchsuchungen aufgegriffene oder zu Zwangsarbeit nicht einsetzbare ältere und kranke Juden. Einen blutigen Höhepunkt der Massaker brachte die vom Gebietskommissar Wulff, zuständig für die Region Vilnius, eingeleitete Großaktion im April 1943. Tausende Juden aus den Ghettos und Arbeitslagern der Region wurden in Deportationszügen nach Paneriai gebracht und vom dortigen Bahnhof zur Exekution in die Gruben getrieben – insgesamt ungefähr 5.000 Frauen, Kinder, Männer und Jugendliche.
Im Verlauf der Liquidierung des Ghettos von Vilnius schließlich im August/September 1943 wurden hunderte Ghettohäftlinge vor der Abfahrt der Transporte nach Estland „aussortiert“ und, ebenso wie hunderte von Juden, die zu fliehen versucht hatten, nach Paneriai geschafft und dort erschossen.
Morde bis zur Befreiung im Juli 1944
Ein über Monate sich hinziehender Schrecken war die „Aktion 1005“, in deren Verlauf ab Dezember 1943 achtzig Juden unter drakonischen Sicherheitsmaßnahmen, jeweils zu zweit aneinander gekettet und streng bewacht, zehntausende von Leichen aus den Erschießungsgruben wieder ausgraben, auf Holzstapeln aufschichten und verbrennen mussten. SS-Chef Himmler hatte für alle Massenmordplätze „im Osten“ diese Aktion angeordnet, um die begangenen Verbrechen vor der heranrückenden Roten Armee zu vertuschen – ein wahnwitzig-sinnloses Unterfangen. Aus dem in Paneriai eingesetzten Kommando, dem Mitte April 1944 der zum Teil mit bloßen Händen gegrabene Durchbruch eines Tunnels gelungen war, schafften elf Zwangsarbeiter die Flucht zu den in den Wäldern der Umgebung operierenden jüdischen Partisanen. Ihre Aussage war 1946 u.a. Gegenstand des Nürnberger Prozesses gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher. Die genaue Lage des Fluchttunnels wurde 2016 entdeckt.
Die so genannte „Kinderaktion“ im März 1944 galt gezielt jenen Kindern, die in den nach der Ghetto-Auflösung verbliebenen Zwangsarbeiterlagern HKP und Kailis mit ihren Familien oder ihren Beschützern noch lebten. Hunderte Kinder wurden – oftmals zusammen mit ihren Müttern, die sich nicht von ihnen trennen konnten – nach ihrer Festnahme durch die Greifkommandos auf Lastwagen geworfen und in Paneriai getötet. Nur wenige überlebten unentdeckt, unter ihnen der später international bekannt gewordene Maler Samuel Bak. Ein Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof (Jüdische Friedhöfe) erinnert an die ermordeten Kinder.
Das Ende der deutsch-faschistischen Besatzung in Vilnius war mit der Ermordung der in den Lagern der Kailis-Fabrik und des HKP verbliebenen Arbeiter und ihrer Familienangehörigen verbunden. Am 2. und 3. Juli 1944 durchkämmten SS und litauische Hilfstruppen die Gebäude, konnten zahlreiche Verstecke aufbrechen und ermordeten die bis dahin noch Überlebenden teils an Ort und Stelle, teils in Paneriai – ein grausames und blutiges Schlusskapitel der Massenmorde vor den Toren von Vilnius. Wenige hundert Juden blieben in ihren Verstecken unentdeckt oder überlebten die Flucht – darunter ungefähr 250 Arbeiter mit Familienangehörigen im HKP-Lager dank der Warnung des Lagerleiters Major Karl Plagge.
23. September: Natioaler Gedenktag anlässlich der Liquidierung des Ghettos von Vilnius (Fotos 2008)