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Ghetto Vilnius

 

Verhör am Ghetto-Tor (Schur)

Ghetto-Plan (Schur)

Ghetto-Modell (Kostanian)

Das Ghetto in Vilnius wurde am 6. September 1941 als bewachter und abgeschlossener Bezirk installiert. Nach langem Hin und Her zwischen Militärverwaltung, Bürgerkomitee und deutscher Zivilverwaltung erfolgte die Anordnung durch den Generalkommissar für Litauen, Adrian von Renteln (Reichskommissariat Ostland). Der jüdischen Bevölkerung wurde befohlen, Wohnungen und Häuser zu verlassen und zunächst in zwei von einander durch die heutige Vokiečių-Straße (damals Deutsche Straße) getrennte Bezirke der Altstadt „umzusiedeln“. Im „kleinen Ghetto“ wurden ca. 10.000, im „großen Ghetto“ etwa 30.000 Männer, Frauen und Kinder, Alte und Kranke auf engstem Raum zusammengepfercht. Als „Habe“ durften sie mitnehmen, was sie tragen konnten. Vorausgegangen war die so genannte „Große Provokation“ am 31. August 1941, als ein von litauischen „Partisanen“ vorgetäuschter Anschlag auf deutsche Soldaten den Massenmord an jüdischen Familien in der Altstadt auslöste, der auf diese brutale Weise die Wohnungen im Gebiet des vorgesehenen Ghettos „frei“ machte.  Die Opfer dieser „Aktion“ waren nach Paneriai verschleppt und dort erschossen worden. Das „kleine Ghetto“, in dem vor allem nicht mehr arbeitsfähige Menschen eingepfercht waren, wurde schon Ende Oktober 1941 wieder aufgelöst, die Bewohner, mit usnahme noch Arbeitsfähiger, wurden ebenfalls nach Paneriai geschafft und ermordet. Zunächst erhalten blieb das „große Ghetto“.  

 

Das Gebäude des Judenrats

Die arbeitsfähigen Gefangenen hatten vor allem außerhalb des Ghettos Zwangsarbeit zu leisten: in Fabriken und auf Baustellen, in Torfbrüchen, im Eisenbahn- und Straßenbau oder in Dienststellen der deutschen Besatzungsverwaltung. Als Instrument der zunehmenden Dezimierung der Zahl der Ghettobewohner diente ein System in ihrer Farbe wechselnder Arbeitsscheine. Wer bei „Aktionen“ ohne gültigen Arbeitsschein angetroffene wurde, hatte mit der Deportation nach Paneriai zu rechnen.

Jakob Gens (Schur)

Die Ordnung im Ghetto musste von einem eingesetzten Judenrat und einer jüdischen Polizei aufrechterhalten werden. Die jüdische Ghettopolizei hatte u.a. die Ghetto-Tore zu bewachen und die von der täglichen Zwangsarbeit Zurückkehrenden nach Schmuggelware zu kontrollieren. Manche Ghettopolizisten waren korrupt und trieben bei „Aktionen“ die von den deutschen „Herren über Leben und Tod“ angeforderten Bewohner zusammen. Andere Polizisten leisteten jedoch Hilfe für Verfolgte, einige Polizisten waren sogar Mitglieder des jüdischen Widerstandes

Chef des Judenrats und der Ghetto-Verwaltung war ab Mitte 1942 Jakob Gens, der mit einer „Schaukelpolitik“ zwischen den Befehlen der Deutschen zur Auslieferung einer bestimmten Zahl von Juden und dem Bemühen um Rettung der Ghetto-Insassen zu lavieren versuchte – letztlich ohne Erfolg. Kurz vor Auflösung des Ghettos und der Deportation seiner Bewohner im September 1943 wurde Gens von der Gestapo ermordet.

Von den im „großen Ghetto“ unter unmenschlichen Bedingungen Eingesperrten waren Ende 1941 nur noch etwa 20.000 Häftlinge am Leben. Innerhalb von weniger als vier Monaten waren weitere zehntausend Menschen vor allem in Paneriai unter dem Kommando der SS von litauischen Hilfstruppen ermordet worden. Die Tagebücher und Chroniken u.a. von Grigorij Schur, Herman Kruk und Abraham Suzkever schildern das Grauen des alltäglichen Lebens, des Sterbens und des verzweifelten Widerstandes.  

Plan der beiden Ghettos Das Grüne Haus Gedenktafel im Innenhof des ehemaligen Judenratsgebäudes Gedenkort für die Ghetto-kämpfer

Hingst und Murer (Schur / GFH)Die "Herren über Leben und Tod"  

Zu den gefürchtete „Herren über Leben und Tod“ zählten vor allem neben dem Stadtgebietskommissar Hingst, die SS-Offiziere Franz Murer, Martin Weiß, Bruno Kittel, Rolf Neugebauer, August Hering und Horst Schweinberger. Von diesen für Terror und tausendfachen Massenmord Verantwortlichen wurden nach 1945 von deutschen Gerichten lediglich Weiß und Hering bestraft, Murer wurde in einem skandalösen Prozess in Österreich freigesprochen (Gerichtsprozesse).

Horst Schweinberger (Yad Vashem) Rolf Neugebauer August Hering (GFH) Bruno Kittel (GFH) Marin Weiß

Die Liquidierung des Ghettos

Am 23. September 1943 erfolgte die in den Wochen zuvor schrittweise in Gang gesetzte, schließlich endgültige Auflösung des Ghettos. Die im August 1943 noch lebenden 24.000 Häftlinge wurden fast alle in Konzentrations- und Arbeitslagerlager in Estland, Lettland, Polen (Stutthof) und in Deutschland (u.a. Dachau und Dautmergen bei Rottweil), wahrscheinlich auch in Vernichtungslager wie Majdanek deportiert. SS-Chef Heinrich Himmler hatte vor dem Hintergrund zunehmend erfolgreicher Partisanenangriffe im Juni 1943 für die besetzten Gebiete generell die Liquidierung aller Ghettos befohlen. Im Laufe des August wurden bereits tausende Ghetto-Häftlinge in estnische Arbeitslager deportiert. Vier Lager mit etwa 2.600  Zwangsarbeitern wurden in in der Stadt Vilnius bis zum Abzug der deutschen Besatzung im Juli 1944 aufrechterhalten (HKP, Kailis, Gestapolager und Kriegslazarett), die verbliebenen Zwangsarbeitskräfte wurden vor dem Abzug der Deutschen fast alle ermordet. Einige hundert jüdische Widerstandskämpferinnen und -kämpfer konnten sich in den Wochen vor der Ghetto-Liquidierung zu den Partisanen in die umliegenden Wälder durchschlagen, zuletzt gelang die Flucht einer großen Gruppe durch die Kanalisation. Das mörderische „Aufräumen“ in der Stadt Vilnius endete mit der Tötung vieler in Verstecken noch aufgespürter Juden.


Gedenken

Gedenktafel am Gebäude des ehemaligen Judenrats

  • Am Haus Nr. 18 der Rudninkų-Straße und an der Gaono-Straße Nr. 3 zeigt jeweils eine Bronzetafel die Lage der beiden Ghetto-Bezirke.

  • Im Innenhof des Gebäudes in der Rudninkų-Str.8 (früher Rudnicka 6) erinnert eine Plakette an den eheamligen Sitz des Judenrats und an die 1.200 Opfer der Selektion vom 3. November 1941.
     
  • Ebenfalls im Innenhof des Gebäudes des ehemaligen Judenrats, heute der Innenhof des "Youth Theaters", erinnert eine seit Oktober 2000 dort errichtete Skulptur „Flamme der Hoffnung“ des Bildhauers Leonardo Nierman an die Opfer des Terrors im Ghetto (Zugang über Karmelitų-Straße 3).
     

  • Lydos Str. Nr. 3 – am Gebäude des ehemaligen Ghetto-Gefängisses erinnert eine Gedenktafel an die über 2.000 Juden, die auf dem Weg nach Ponary durch die Lydos Straße getrieben wurden.
    Tafel am ehemaligen Ghetto-Gefängnis 
  • Im „Grünen Haus“ (Pamėnkalnio-Straße 12) befindet sich das Holocaust-Department des Jüdischen Museums mit einer ständigen Ausstellung mit zahlreichen Informationen zur Geschichte des Ghettos.

  • Gegenüber dem Gebäude in der Mėsinių-Straße 3A/5 steht ein Gedenkstein für die Ghetto-Märtyrer und Ghetto-Kämpfer.

  • Auf dem jüdischen Friedhof (Sudervės-Kelias-Straße 28) erinnert eine große Anzahl von Grab- und Gedenksteinen an die Ghetto-Opfer (Jüdische Friedhöfe).

 

Zu den tausenden Opfern der in die estnischen Arbeitslager Deportierten zählen zwei mit der Geschichte des Ghettos von Vilnius besonders verbunde Juden: Hirsch Glik, Verfasser des Textes der bis heute lebendig gebliebenen Hymne der Partisanen, und Herman Kruk, Leiter und Organisator der Ghetto-Bibliothek, dessen erschütternde Chronik des Alltagslebens und der Ereignisse im Ghetto und im estnischen Lager erhalten geblieben ist.


Literatur / Medien
Arad, Yitzhak: Ghetto in Flames. The Struggle and Destruction of the Jews in Vilna in the Holocaust, New York 1982; Bartusevičius u.a. (Hg.): Holocaust in Litauen, 2003; Bubnys, Arūnas: The Holocaust in Lithuania between 1941 and 1944, Vilnius 2005; Dieckmann 2011, Bd. 2, S. 967ff.; Enzyklopädie des Holocaust, hsg. von Jäckel / Longerich / Schoeps, 1995 (Foto Bd. 3, S. 1601); Freund, Florian / Ruttner, Franz / Safrian, Hans (Hg.): Ess firt kejn weg zurik. Geschichte und Lieder des Ghettos von Wilna 1941 - 1943, Wien 1992; Gräfe, Karl Heinz: Vom Donnerkreuz zum Hakenkreuz, Berlin 2010, S. 193ff.; Guzenberg, Irina: Vilnius. Sites of Jewish Memory. A Concise Guide, Vilnius 2013; Holocaust Atlas 2011, S. 297; Kostanian-Danzig, Rachel: Spiritual Resistance in the Vilna Ghetto, Vilnius 2002 (Foto S. 61); Kruk, Herman: The Last Days of the Jerusalem of Lithuania. Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939–1944, hrsg. von B. Harshav, New Haven u. London 2002; [Schur, Grigorij]: Die Juden von Wilna. Die Aufzeichnungen des Grigorij Schur 1941–1944, hrsg. von W. Porudominskij, München 1999 (Fotos S. 48, 55, 97); Sutzkever, Abraham: Wilner Ghetto 1941–1944, Zürich 2009; Balberyszski, Mendel: Die Liquidierung des Wilnaer Ghettos, in: Beer, Frank / Benz, Wolfgang / Distel, Barbara (Hg.): Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944–1947, Berlin 2. Auflage 2014, S. 457–484 

https://de.wikipedia.org/wiki/Ghetto_Vilnius
http://www.revilna.org/map.html (Foto ehemaliges Gebäude des Judenrats)
http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Holocaust/Vilnatoc.html
http://www.holocaustatlas.lt/EN/#a_atlas/search//page//item/119/
http://www.juden-in-europa.de/baltikum/vilna/ghetto.htm
http://www.vilnaghetto.com/chrono.html
http://www.arbeit-und-leben-hochtaunus.de/Litauen.Ghetto_Wilna_1941-44.pdf
https://www.youtube.com/watch?v=YUXY2IFECZA&feature=related

http://www.black-dog-ev.de/blackdog.php?p=1.2#KJ (Ausschnitt Film: Karl Jäger und wir. Die langen Schatten des Holocaust in Litauen. Ein Mehrgenerationen-Filmprojekt von Black Dog e.V. - Jugend und Medienbildung. 

Foto Kittel: Ghetto Fighters House, Photo Archive, Catalog No. 26367; Foto Murer: Ghetto Fighters House, Photo Archive, Catalog No. 25090
Foto Weiß: Ghetto Fighters House, Photo Archive, Catalog No. 26360, Foto: Ghetto Fighters House Archives, Catalog Nr. 25987, Registry Nr. 11695p, Foto: Schweinberger, Yad Vashem, Digital Archives, Archival Signature: FA245/10/98