Jakob GensJakob Gens, geboren am 01. April 1905 in Ilgviečiai in der Nähe von Šiauliai, diente 1919 als Freiwilliger, bis 1924 als Leutnant in der litauischen Armee und wurde, während er seinen Lebensunterhalt als Lehrer an jüdischen Schulen und als Buchhalter verdiente, Ende der 1930er Jahre zum Reserve-Hauptmann befördert. Mit seiner Familie zog Gens 1940 von Kaunas nach Vilnius, da er als litauischer Patriot und Mitglied einer rechtszionistischen Gruppe nach der Annexion Litauens durch die Sowjetunion seine Verhaftung als „antisowjetisches Element“ befürchtete. Nach dem Deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war Gens zunächst in der städtischen Gesundheitsverwaltung tätig, leitete kurze Zeit das jüdische Krankenhaus, bis ihn der Judenrat nach der Bildung des Ghettos (Vilnius) im September 1941 zum Chef der jüdischen Ghetto-Polizei bestellte. In dieser Funktion verfügte Gens über eine erhebliche Machtfülle im Ghetto, die er autoritär ausübte. Er verfolgte eine ambivalente Praxis der Zusammenarbeit mit der SS einerseits und war andererseits bemüht, so viele Ghetto-Bewohner wie möglich vor der Deportation zu bewahren. 

 

Der Judenrat bei einer Sportveranstaltung im Ghetto (Gens 1. Reihe, 6. von links, Saul Dessler 4. von links)Als der Judenrat Mitte 1942 aufgelöst wurde, setzte die deutsche Besatzung Gens zum alleinigen Ghetto-Leiter ein. Sein Nachfolger und gefürchteter Polizeichef wurde Saul Dessler. Während viele Juden im Ghetto an Gens glaubten, hielt die Mehrheit im Ghetto Dessler für einen skrupellosen Gestapo-Agenten. Gens war überzeugt, dass einzig durch Arbeit die Ghetto-Bewohner eine Überlebenschance hätten und dadurch wenigstens die Arbeitsfähigen die Nazi-Besatzung überdauern könnten. Er müsse sich – so Gens – in diesen schrecklichen Zeiten die Hände schmutzig machen, denn es sei seine Pflicht, die Starken und Jungen zu retten und sich nicht von Gefühlen beherrschen zu lassen (vgl. JewishGen). Diese fortgesetzte Politik der Mischung aus Kollaboration und Schutzbemühung machte ihn faktisch zum Helfer bei der voranschreitenden Auslieferung der Juden des Ghettos an die SS-Mordkommandos, indem er Juden (z.B. Ältere und Kranke) als „Preis“ für die Verschonung arbeitsfähiger Juden übergab. 

Jakob Gens wurde am Ende Opfer seiner Politik, da der wirkliche Plan der Deutschen die Vernichtung aller Juden, auch die Liquidierung des Ghettos war. Am 14. September 1943, wenige Tage vor der Räumung des Ghettos, wurde er in die Gestapo-Zentrale von Vilnius beordert und dort von Obersturmführer Rolf Neugebauer erschossen. Er war am Tag zuvor gewarnt worden, schlug eine Flucht jedoch mit der Begründung aus, diese würde für die Ghetto-Bewohner zum Desaster. Gens’ Rolle als Chef der Ghetto-Polizei und der Ghetto-Verwaltung zu werten – ob in auswegloser Lage um die Rettung Einzelner und die eines „Rests“ bemühter Ghetto-Chef oder als kollaborierender, skrupelloser „König des Ghettos“ – ist umstritten und wohl nie zu klären.

In der Beurteilung des jüdischen, in Vilnius 1917 geborenen Historikers, Reuben Ainsztein, war der Fall Gens einzigartig, „weil kein anderer Ghettoführer im Dienst für die Nazis so weit ging, wie Gens es tat: kein anderer Ghettoführer setzte seine Polizei zur Exekution von Juden ein. Noch spielte irgendein anderer Ghettoführer solch eine wirksame Rolle bei der Sabotierung der jüdischen Teilnahme an der Partisanenbewegung“ (Ainsztein 1993).

Auf einer Bildungsveranstaltung des Schriftstellerverbands im Ghetto verteidigte Gens sein Verhalten:

„Viele von euch betrachten mich als Betrüger ... Ich, Gens, führe euch in den Tod und ich, Gens, möchte Juden vor dem Tod bewahren. Ich, Gens, ordne an, dass Verstecke in die Luft gejagt werden, und ich, Gens, versuche, euch durch Papiere, Arbeit und anderes zu retten. Ja, ich schlage Kapital aus jüdischem Blut und nicht aus jüdischer Ehre! Wenn 1.000 Juden von mir gefordert werden, ich liefere sie. Wenn wir Juden nicht folgen, kommen die Deutschen und werden das gesamte Ghetto in ein Chaos verwandeln. Mit 100 schütze ich 1.000 andere. Mit 1.000, die ich abliefere, schütze ich 10.000! Ihr, die Leute des Geistes und der Schrift – ihr berührt nicht den Schmutz des Ghettos. Ihr werdet das Ghetto sauber verlassen. Und wenn ihr das Ghetto überleben solltet, werdet ihr sagen können: Wir haben es verlassen mit einem guten Gewissen. Aber wenn ich, Jacob Gens, überleben sollte, werde ich schmutzig herauskommen und mit blutigen Händen. Und dann werde ich mich einem ordentlichen Gericht stellen. Einem freien jüdischen Gericht! Ich werde sagen: Ich tat alles, um möglichst viele Juden aus dem Ghetto zu retten und ihnen zur Freiheit zu verhelfen. Damit überhaupt noch ein Rest von Juden am Leben bleiben würde, war ich gezwungen, andere in den Tod zu führen. Und um andere Juden mit einem guten Gewissen zu lassen, war ich gezwungen, im Schmutz stecken zu bleiben und gewissenlos zu handeln (van Dick 2003).

Literatur/Medien
Ainsztein, Reuben: Jüdischer Widerstand im deutschbesetzten Osteuropa während des Zweiten Weltkrieges, Oldenburg 1993, S. 248ff. (Zitat S. 248; Rede von Gens, S. 249f.; FN zu Dessler S. 514); Arad, Yitzhak: Ghetto in Flames, New York 1982; Dick, Lutz van: Der Partisan, Frankfurt/M., 2003 (Zitat S. 137); Dieckmann, Christoph 2011, Bd. 2, S. 1108 (FN 321), S. 1124f.; Enzyklopädie des Holocaust, hsg. von Jäckel / Longerich / Schoeps, 1995, Bd. 1, S. 516ff.; Rolnikaite, Mascha: Ich muss erzählen: Mein Tagebuch 1941–1945, Hamburg 2002; [Schur, Grigorij] Die Juden von Wilna. Die Aufzeichnungen des Grigorij Schur 1941–1944, hrsg. von Wladimir Porudominskij, München 1999, S. 95ff.

http://www.holocaustresearchproject.org/ghettos/gens.html (Fotos)
http://www.juden-in-europa.de/baltikum/vilna/biographien.htm
http://www.jewishgen.org/yizkor/terrible_choice/ter002.html (JewishGen/Ansprachen von Gens)
https://de.wikipedia.org/wiki/Jacob_Gens