Region Provence-Alpes-Cote d'Azur, Departement Alpes-Maritimes

Blick auf Saint-Martin-Vésubie; Foto: Mossot, en.wikipedia, CC-BY-SA 3.0

Der Ort
Städtchen, 1411 Einwohner*innen (2017),  im Hinterland von Nizza, vor den Bergen des Nationalparks Mercantour. Anfahrt: D 2202 Nice →Digne bis Plan-du-Var (22 km), dann D 2565 →Gorges de la Vésubie bis Saint-Martin (35 km).

Die Ereignisse
Nach der deutschen Besetzung Frankreichs waren zentraleuropäische NS-Verfolgte, darunter viele jüdische Menschen, nach Nizza und Umgebung geflohen. Auch unter der italienischen Besatzung ab November 1942 wurden sie von der Militärführung nicht verfolgt, sondern geduldet. Im Frühjahr 1943 transportierten die Italiener nach einer Übereinkunft mit jüdischen Hilfsorganisationen viele von ihnen weg von der Küste ins bergige Hinterland. In Saint-Martin-Vésubie hatten 1943 ca. 1200 Juden eine vorläufig halbwegs sichere Zuflucht gefunden.
Mit dem Waffenstillstand zwischen Italien und den Alliierten (vgl. Kriegsaustritt Italiens), der am 8. September 1943 öffentlich bekannt wurde, änderte sich die Situation dramatisch, vor allem auch weil die deutsche Wehrmacht unmittelbar danach in die ehemals italienische Zone einmarschierte. Ihnen auf dem Fuß folgte die SS mit Alois Brunner an der Spitze, sogleich mit z.T. gewaltsamen Massenrazzien von Juden begann. Damit waren alle Pläne hinfällig, die jüdischen Menschen rechtzeitig nach Italien und ggfs. nach Nordafrika zu evakuieren (vgl. dazu Klarsfeld a.a.O., S. 276ff.)
Ab 8. September 1943, dem Tag der deutschen Besetzung, flüchteten etwa 1000 Juden aus Saint-Martin-Vésubie über zwei Alpenpässe nach Italien. Die SS fing ab 18. September etwa 350 Männer, Frauen und Kinder ab; sie wurden über Borgo San Dalmazzo (I), Nizza und Drancy in das Todeslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Weitere jüdische Menschen wurden bei einer Razzia in Saint-Martin-Vésubie gefangen und deportiert.

„Exodus“ 1943/Aufstieg zum Pass; ©  ajpn.org/C.Romanitalienische Grenzer empfangen jüdische Flüchtlinge; ©  Collection MRA, fonds Michèle Raiberti, museedelaresistancenelinge.fr















 

 

Der „Exodus“, geschildert von Serge Klarsfeld:
Mehrere hundert Juden, sie sich in Saint-Martin-Vésubie in den Nizzaer Alpen aufhalten, machen den Versuch, zu Fuß den örtlichen italienischen Truppen nach Italien zu folgen: zwischen dem 8. und dem 13. September brechen sie ungeordnet und in unregelmäßigem Abstand auf und benutzen zwei Wege. Frauen, Kinder und Alte brauchen zwei bis drei Tage, um nach Italien zu gelangen, entweder über den Fenestre-Pass (2471 m), der sie in das Dörfchen Entracque oberhalb der italienischen Grenze führt, oder über den Cerise-Pass (2453 m), der sie in die Ortschaft Valdieri bringt. Die Solidarität der Stärkeren für die Schwächeren ermöglicht es den Teilnehmern dieses „biblischen Exodus“, Kälte, Regen, die Schwierigkeiten eines Gebirgsmarsches und den Mangel an Nahrungsmitteln zu überwinden. Am 18. September fängt die SS 349 von ihnen ab und interniert sie in Borgo San Dalmazzo. Fast alle werden am 21. November über Savona nach Nizza überstellt und anschließend nach Drancy gebracht, wie die zahlreichen Opfer der Razzien Brunners in Nizza...“ (Klarsfeld, a.a.O., S. 279).

Gedenken
Gedenktafel am Col de Fenestre (© Adriana Muncinelli)

Text der Gedenktafel (aufgestellt von der italienischen Organisation „La memoria degli Alpi“)
Im September 1943 versuchten hunderte von Juden aus ganz Europa, häufig vergeblich, sich über diesen Pass vor der antisemitischen Verfolgung zu retten. Du, der Du Dich frei bewegen kannst, bedenke, dass das geschehen ist, immer wenn Du toleriert hast, dass jemand anderes nicht die gleichen Rechte wie Du hatte.
Jeweils an einem Wochenende um den 9. September steigen Menschen von Saint-Martin-Vésubie bzw. einem italienischen Grenzdorf in einer Gedenkwanderung ('marche de la mémoire' / 'attraverso la memoria') auf dem historischen Weg zum Col de Fenestre bzw. Col de Cerise auf; vgl. https://marchedelamemoire.wordpress.com/ Start in Saint-Martin-Vésubie am Alpha parc animalier, Chalet d'accueil du Boréon, RD 89.

erste Gedenktafel

Die Gedenktafel wurde 1995 aufgestellt von der Gemeinde, dem Verein 'Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs', vom Generalrat des Departements und dem Rat der jüdischen Gemeinden der Region. Sie stehen auf dem Square Paul Vallaghé im unteren Dorf neben der Allée de Verdun 145. Der Text lautet (übersetzt auf deutsch):

Hier verlebten ungefähr 1000 Juden, Männer, Frauen, Kinder, Greise, unterstützt von jüdischen Organisationen und geschützt von der italienischen Besatzungsarmee eine Atempause bis zum 8. September 1943. An diesem Tag brach der Rassenhass der deutschen Besatzer los.
Nach Überqueren der Berge in einem biblischen Exodus wurden 350 von der SS aufgegriffen und in Borgo San Dalmazzo interniert.Von der Gestapo nach Nizza und Drancy gebracht, wurden sie in das Todeslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo fast alle ermordet wurden.
Erinnern wir uns an die unschuldigen Opfer, die Grausamkeit ihrer Henker, aber auch an die Menschlichkeit derer, die sie zu retten versuchten“.

Zuerst werden die 31 Namen derer genannt, die nach dem 8. September 1943 im Ort von den Nazis verhaftet und dann in das Todeslager Auschwitz deportiert wurden. Die anderen Namen gelten den jüdischen Menschen, denen Saint-Martin-Vésubie als Zwangswohnort angewiesen worden war und die nach ihrer 'Flucht vor den Nazi-Barbaren' im italienischen Borgo San Dalmazzo von den Deutschen verhaftet und dann nach Auschwitz deportiert worden sind. Die Tafel nennt die Namen von zehn Bewohnerinnen und Bewohnern, die die israelische Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet hat, weil sie einen oder mehrere jüdische Menschen vor dem Tod durch die Nazis gerettet haben.

Gedenktafel mit den Namen der Deportierten

 

„Gerechte unter den Völkern“ aus Saint-Martin-Vésubie

Beispiel: Joseph Raibaut, Straßenarbeiter, und seine Frau Victorine leben in bescheidenen Verhältnissen mit ihren acht Kindern in Saint-Martin. Am 9. September 1943 trifft Frau Raibaut die erschöpfte Ettel Majer, Flüchtling aus der Tschechoslowakei, die den Aufstieg in die Berge mit ihren Kindern Aïda, 9 Jahre, und dem 3 Monate alten Baby Léon, gewagt aber nicht geschafft hat (ihr Mann war im Frühjahr 1943 deportiert worden). Die Famile Raibaut nimmt sie auf, später noch zwei ältere Frauen aus Luxemburg. Einige Monate später übernimmt ein jüdisches Rettungsnetz die Familie Ettel. 1965 haben sich beide Familien wieder getroffen (nach: 

https://www.departement06.fr/patrimoine-culturel-des-alpes-maritimes/hommage-aux-justes-de-saint-martin-vesubie-13930.html )



 



Literatur/Medien
Baudot-Laksine, Danielle: Saint-Martin-Vésubie. Un temps de désordre, Châteauneuf/Grasse 2015
Klarsfeld, Serge: Vichy–Auschwitz. Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich, Nördlingen 1989, S. 276ff.
www.ajpn.org/commune-Saint-Martin-Vesubie-6127.html
http://184.173.197.201/~sefarad/lm/064/html/page9.html
http://museedelaresistanceenligne.org/media3556-Soldats-italiens-et-Juifs-A
https://fr.timesofisrael.com/col-de-fenestre-la-fuite-des-juifs-en-italie-commemoree-en-presence-de-migrants/