Schriftgröße A A A

Telšiai / Geruliai / Rainiai

Bezirk Telšiai

Verlassenes Gebäude der ehemalige Jeschiwa heute  (alles-ueber-litauen)Der Ort
Die im Westen Litauens liegende Stadt Telšiai hat heute ca. 22.000 Einwohner und ist Hauptstadt des gleichnamigen Verwaltungsbezirks, im Westen angrenzend an den Bezirk Klaipėda, im Osten an den Bezirk Šiauliai. Telšiai liegt am Mastis-See. Die Stadt ist über die west-östliche Autobahn A11/E272 erreichbar, ca. 90km von Klaipėda, ca. 70km von Šiauliai entfernt. Telšiai ist katholischer Bischofssitz und war seit dem 17. Jahrhundert ein Zentrum des orthodoxen Judentums. Das Jeschiwa-Bildungszentrum, das Grundschulen für Mädchen und Jungen über die Oberstufe bis zur Lehrer- und Rabbinerausbildung umfasste, erlangte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts über Litauen hinaus Berühmtheit. Während der einjährigen Sowjetherrschaft 1940/1941 wurde es aufgelöst und danach unter der deutschen Besatzung ebenso vernichtet wie die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt.

Die Ereignisse
Von den ca. 6.000 Einwohnern der Stadt waren im Jahr 1941 ungefähr 2.800 Juden – Frauen und Kinder eingeschlossen. Hinzu kamen damals noch jüdische Flüchtlinge aus dem Klaipėda-Gebiet in unbekannter Zahl. Litauische Nationalisten, die bereits in den Monaten zuvor antisowjetische Untergrundgruppen gebildet und LAF-Propagandaschriften verteilt hatten, übernahmen noch vor der Ankunft deutscher Truppen die Kreis- und Polizeiverwaltung. Die bürgerliche Elite der Stadt – u.a. Ärzte und Lehrer – zählten zu den lokalen LAF-Aktivisten. Am 28. Juni besetzte die deutsche Wehrmacht die Stadt. Auf deutschen Befehl holten bewaffnete Litauer die Juden der Stadt aus ihren Wohnungen und trieben sie in Häuser am Ufer des Mastis-Sees, die zu einem Ghetto umfunktioniert wurden. Die Juden mussten persönliches Eigentum in ihren unverschlossenen Wohnungen zurücklassen, Männer wurden von Frauen mit Kindern getrennt. Die Wohnungen der jüdischen Familien wurden geplündert.

Demütigung und Ermordung der jüdischen Männer
Noch Ende Juni wurden die jüdischen Männer im wenige Kilometer entfernten Dorf Rainiai in ein provisorisches Camp gebracht. Im Wald bei Rainiai waren noch während des sowjetischen Rückzugs und kurz vor Eintreffen der deutschen Truppen Gefängnisinsassen, politische Gegner des Sowjetregimes, vom sowjetischen Geheimdienst ermordet worden; bald darauf entstand das wahrheitswidrige Gerücht, die eigentlichen Täter dieser Morde seien Juden gewesen. Dieses Rückzugsverbrechen des sowjetischen Geheimdienstes wurde nun den Juden in die Schuhe geschoben, die nach der Exhumierung der 76 Mordopfer die Leichen waschen und bei der anschließenden Bestattung „unter Demütigungen am Wegrand knien“ mussten (Dieckmann 2011). Das Lager wurde von Litauern bewacht, es herrschte Hunger, die Gefangenen wurden zum Gespött der Zuschauer und zum Entsetzen ihrer Frauen zu kollektiven „gymnastischen Übungen“ gezwungen. Der am 21./22. Juli 1941 schließlich erfolgte Massenmord an den jüdischen Männern von Telšiai wurde unter dem Befehl von zwei Gestapo-Offizieren von litauischer Polizei und Angehörigen litauischer Hilfstruppen ausgeführt. Juden waren zuvor gezwungen worden, ihre eigenen Massengräber auszuheben. Die Zahl der Mordopfer betrug – nach unterschiedlichen Quellen – zwischen 800 und 1.500 Männern.

Etwa zur gleichen Zeit wurden ungefähr 100 junge jüdische Männer, die zur Zwangsarbeit in Dūseikiai eingesetzt waren, im Wald von Geruliai, einem kleinen Dorf ca. 7km von Telšiai entfernt, ermordet. In der Stadt selbst wurden im Sommer 1941 ungefähr 200 Juden aus Alsėdžiai und aus dem Bezirk Telšiai ermordet.

 

 

Denkmal für Opfer aus Alsėdžiai und Telšiai (kvr.kpd.lt) Gedenkstätte Rainiai I für die ermordeten Männer Gedenkstein mit Inschrift

Das Schicksal der jüdischen Frauen und Kinder
Die Frauen und Kinder wurden eine Woche nach dem Mord an den Männern von Telšiai zunächst ebenfalls nach Geruliai gebracht. Dorthin wurden zusätzlich Frauen und Kinder aus zahlreichen umliegenden Ortschaften und aus dem Lager Viešvėnai verschleppt. In dem von der Roten Armee zurückgelassenen Barackenlager waren am Ende etwa 2.000 Menschen zusammengepfercht, die unter unsäglichen Bedingungen dahinvegetieren mussten – „… unterversorgt, alles voller Läuse und den ständigen Quälereien der (litauischen – Red.) Wachen ausgesetzt, starben im Lager Dutzende, Typhus brach aus“ (Dieckmann 2011). Einige Male gelang es einer Delegation aus dem Lager zum Bischof von Telšiai durchzudringen, der nach Berichten zwar Mitleid bekundete, es aber bei einer „Messe für die Seelen der umgebrachten Juden“ (Dieckmann 2011) beließ.

Ende August traf ein litauisches Mordkommando im Lager Geruliai ein, ältere und schwächere Frauen, sowie Mütter mit kleinen Kindern wurden abgesondert und im nahen Wald erschossen, weit über 1.500 fanden den Tod. Danach wurde das Lager Geruliai aufgelöst.

Die jüngeren, vom Massaker bislang verschont gebliebenen Frauen und Mädchen, ungefähr 500 bis 600, wurden zurück in die Ghetto-Häuser am Mastis-See gebracht und von dort aus in den Dörfern der Umgebung zur Zwangsarbeit in der Landwirtschaft eingesetzt. Ende 1941 ließ der deutsche Gebietskommissar Hans Gewecke das Ghetto auflösen. „Auf deutschen Befehl ermordeten litauische Polizisten unter Führung von Kreispolizeichef Juodakis die Frauen kurz vor Weihnachten 1941, am 23. Dezember“ (Dieckmann 2011). Einigen Dutzend Frauen gelang zwar die Flucht, die meisten erfroren jedoch mit Kindern in den Wäldern, einige wenige wurden von Bauern versteckt und gerettet. Die Mordtat geschah nahe der Ortschaft Rainiai.

Gedenkstätte Rainiai II für die Frauen (kvr.kpd.lt) Gedenkstein mit Inschrift (kvr.kpd.lt) Rainiai - Informationstafel Gedenkorte (Holocaust Atlas)

Gedenken
Für die Opfer von Telšiai gibt es fünf Gedenkorte: in der Stadt ein Denkmal für die ermordeten Juden aus Alsėdžiai und aus anderen Orten des Bezirks, zwei Gedenkorte in Rainiai und zwei in Geruliai.

Gedenkort Telšiai:
Von der Stadtmitte aus fährt man auf die Sedos Straße (Straße Nr. 161), biegt nach der Bahnlinie in die Pramonės Straße und folgt dem Hinweisschild „Žydų žudynių vieta ir kapas“ in die Kalnėnų Straße bis zu ihrem Ende. Dort weist ein schwarzer Markstein auf die ca. 150m entfernte Gedenkstätte mit folgender Inschrift in Jiddisch und Litauisch: „Im Juni-Juli 1941 wurden hier 38 Juden aus Alsėdžiai und 162 Juden aus dem Bezirk Telšiai ermordet.“
55.995250 22.228283 / 55°59.715000'N 22°13.696680'E

Gedenkort Telšiai / Rainiai I:
An die im Juli 1941 im Wald von Rainiai ermordeten jüdischen Männer erinnert ein Gedenkstein mit der Aufschrift (Jiddisch und Litauisch): „Hier wurde das Blut von ungefähr 7.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern vergossen. Sie wurden 1941 von den Nazi-Henkern und ihren örtlichen Helfern brutal ermordet.“ Man erreicht den Gedenkort von Telšiai aus auf der Straße Nr. 160 bis nach Rainiai, durchquert die Ortschaft, bis rechter Hand ein Hinweisschild zu sehen ist: „Žydų žudynių vieta ir kapas 0,1km“. Dem Schild folgt man bis zu einem schwarzen Markstein (200m), von dort aus zu einem Parkplatz und zur Gedenkstätte. 
55.95600806 22.29854806 / 55°57.3605'N 22°17.9129'E

Hinweisschild - Kapelle im Hintergund  (alles-ueber-litauen)Gedenkort Telšiai / Rainiai II:
An die kurz vor Weihnachten 1941 ermordeten jungen jüdischen Frauen erinnert ein Gedenkstein mit der Inschrift (Jiddisch und Litauisch): „1941 ermordeten hier die Faschisten 500 jüdische Menschen, zumeist Mädchen.“ Man gelangt zum Gedenkort von Telšiai aus ebenfalls auf der Straße Nr. 160 und stoppt kurz vor Rainiai an einem Parkplatz kurz nach der Kapelle von Rainiai, die den 76 im Juni 1941 vom sowjetischen Geheimdienst ermordeten Litauern gewidmet ist. Eine Tafel in der Nähe des Parkplatzes informiert über die verschiedenen Gedenkstätten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite weist ein braunes Hinweisschild auf den jüdischen Gedenkort. Man geht einen kleinen Feldweg ca. 200m in Richtung Wald und kommt zu einem schwarzen Markstein, nach weiteren 100m erreicht man den Gedenkort. Der Unterschied zwischen der bescheidenen Gedenkstätte für die 500 bis 600 von litauischen Polizisten ermordeten jüdischen Frauen einerseits und der Dimension der benachbarten Gedenkkapelle für die 76 Mordopfer des sowjetischen Geheimdienstes macht deutlich, welch geringe öffentliche Aufmerksamkeit den von Litauern getöteten Holocaustopfern und welch hohe Aufmerksamkeit den Opfern früherer Sowjetverbrechen gewidmet wird.
55.960500 22.290667 / 55°57.630000'N 22°17.440020'E

Gedenkort Geruliai I:
Die A11 von Telšiai in Richtung Šiauliai verlässt man bei der Ausfahrt Gintaučiai und fährt bis Geruliai, durchquert den Ort und biegt danach in die erste Straße links. Man folgt dem Wegweiser „Žydų žudynių vieta ir kapas“ in Richtung Wald, passiert zwei schwarze Marksteine und erreicht in ca. 100m den Gedenkort für die dort ermordeten 100 jungen Männer. Nachweislich mindestens seit dem Jahr 2009 fehlt die Inschrift auf dem Gedenkstein.
55.973611 / 22.409333 / 55°58.416660'N 22°24.559980'E 

Gedenkort Geruliai II: 
An die älteren jüdischen Frauen und die Kinder, die Ende August 1941 bei Geruliai ermordet worden sind, erinnert ein Gedenkstein. Man erreicht ihn wie den Gedenkort I in Geruliai, durchquert den Ort bis zu einem schwarzen Markstein am Ortsende links. Ein Steg führt über einen Graben zum Gedenkstein, dessen Inschrift (Jiddisch und Litauisch) lautet: „Das Blut von 4.000 jüdischen Frauen und Kindern wurde hier vergossen. Sie sind von den Nazis und deren lokalen Helfern brutal ermordet worden. Möge das Andenken an die unschuldigen Opfer geheiligt bleiben.“
55.97568139 22.39370639 / 55°58.5409'N 22°23.6224'E

Gedenkstätte Geriulai I für die ermordeten hundert Männer (Holocaust Atlas) Gedenkstätte Geruliai II für die ermordeten Frauen Gedenkstein mit Inschrift

Literatur / Medien
Dieckmann 2011, Bd.1, S. 302, Bd. 2, S. 847ff. (Zitate S. 848, 851, 852); Holocaust Atlas 2011, S. 231, 232, 227; Masjulis, Galina / Kogan, Susanna: Das Schicksal der Juden der Stadt Telšiai, in: Grossmann / Ehrenburg 1994: Das Schwarzbuch 1994, S. 674-676; Erinnerungen von Chaja Roza Goldštein-Šeraite, in: With a Needle in the Heart: Memoirs of Former Prisoners of Ghettos and Concentration Camps, Vilnius 2003, S. 125-129.
http://www.holocaustatlas.lt/EN/Telšiai/Alsėdžiai//item/226/ (Alsėdžiai / Telšiai)
http://www.holocaustatlas.lt/EN/Rainiai1//item/123/ (Rainiai I)
http://www.holocaustatlas.lt/EN/Rainiai2//item/143/ (Rainiai II)
http://www.holocaustatlas.lt/EN/Geruliai1//item/241/ (Geruliai I)
http://www.holocaustatlas.lt/EN/Geruliai2//item/124/ (Geruliai II)

https://yahadmap.org/#village/rainiai-tel-iai-lithuania.978
https://kehilalinks.jewishgen.org/telz/telz3.html
https://www.jewishgen.org/yizkor/Telsiai/telsiai.html
https://www.alles-ueber-litauen.de/ziele-in-litauen/telsiai.html (Fotos)
http://www.alles-ueber-litauen.de/litauen-geschichte/telsiai-rainiai-massaker.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Telsiai 

Fotos
Ehemalige Jeschiwa in Telšiai: www.alles-ueber-Litauen.de (Foto Andreas Kuck)
Gedenkort Telšiai/Alsėdžiai: Kultūros Vertybių Registras, Unique object code 25106
Gedenkort Rainiai II: Kultūros Vertybių Registras, Unique object code 21739 
Gedenkort Rainiai II: Lithuanian Holocaust Atlas, "Mass Murder of the Jewish Women from Telšiai" (Foto Sebastian Pammer)
Gedenkort Rainiai II: Hinweisschild "Grabstätte des Massakers an Juden": www.alles-ueber-Litauen.de (Foto Andreas Kuck)
Gedenkort Geruliai I: Lithuanian Holocaust Atlas, "Mass Murder of the Jews in Geruliai Forest" (Foto Sebastian Pammer)