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Oradour-sur-Glane

Region Limousin, Departement Haute-Vienne

Das völlig zerstörte Dorf (Teilansicht) (© Martin Graf)


Der Ort

Gemeinde, heute mit 2200 Einwohner/innen. 1944 von der SS völlig zerstört, nahezu alle Einwohner/innen wurden ermordet; ein neues Dorf wurde in der Nähe der Ruinen gebaut. Oradour-sur-Glane liegt etwa 25 km nordwestlich von Limoges (N 141 → Angoulême, dann D 9).

Massaker

Am 10. Juni 1944 trieb eine Einheit der Waffen SS-Division „Das Reich“ die Einwohner/innen des friedlichen Bauerndorfs auf dem Marktplatz zusammen. Frauen und Kinder wurden in die Kirche gebracht, sie wurde angezündet, die meisten verbrannten bei lebendigem Leib. Die Männer wurden in Scheunen und am Ortsrand erschossen. 642 Menschen wurden ermordet, darunter 207 Kinder und 254 Frauen. Viele waren Flüchtlinge aus Spanien und Ausgewiesene aus Lothringen (vgl. Charly-Oradour).Das Centre de la mémoire
Oradour gilt als Synonym für deutsche Kriegsverbrechen in Frankreich, war aber kein Einzelfall (vgl. Massaker). Der „Weg nach Oradour“ führte über die rassistische NS-Politik, die Erfahrungen aus dem Vernichtungskrieg gegen die slawischen Völker und die blutige „Partisanenbekämpfung“ in Frankreich, die die Zivilbevölkerung zum Feind erklärte. Die SS-Division „Das Reich“, aber auch Einheiten der Wehrmacht, hatten seit Anfang 1944 eine Blutspur aus – immer nach dem gleichen, dem Vernichtungskrieg im Osten entlehnten Muster begangenen – hundertfachen Morden, Gräueltaten, Anzünden von Dörfern, Deportationen und willkürlichen Erschießungen hinterlassen (vgl. z.B. Lacapelle-Biron, Figeac, Gabaudet, Bretenoux, Tulle).

Die ausgebrannte Kirche (© Martin Graf)

Das Massaker an den Frauen und Kindern in der Kirche

Bericht von Marguerite Rouffanche, damals 47 Jahre alt, die als einzige Frau dem Massaker entkam. Sie verlor ihren Mann, ihren Sohn, ihre beiden Töchter und ihren Enkel, der damals sieben Monate alt war. Quelle: Hervé/Graf, Oradour, S. 40f.

„Gegen 14 Uhr am 10. Juni 1944, nachdem sie mich aus meiner Wohnung geholt hatten, befahlen mir die deutschen Soldaten, mich auf den Marktplatz zu begeben mit meinem Mann, meinem Sohn und meinen beiden Töchtern.
Dort waren schon zahlreiche Einwohner von Oradour versammelt, während von allen Seiten noch weitere Männer und Frauen eintrafen. Dann kamen die Kinder mit ihren Lehrern aus der Schule. Die Deutschen teilten uns in zwei Gruppen, auf der einen Seite die Frauen und Kinder, auf der anderen die Männer. Die erste Gruppe wurde durch bewaffnete deutsche Soldaten zur Kirche geführt. Diese Gruppe umfasste alle Frauen, Mütter und Kinder der Stadt, die nun, ihre Babys auf dem Arm oder im Kinderwagen, den heiligen Ort betraten. Dort waren auch alle Schulkinder versammelt. Die Zahl der dann anwesenden Personen kann auf mehrere Hundert geschätzt werden.
Eingesperrt an dem heiligen Ort erwarteten wir mit immer größerer Unruhe das Ende der Vorbereitungen, denen wir beiwohnten. Gegen 16 Uhr stellten Soldaten im Alter von etwa 20 Jahren in der Nähe des Chores der Kirche eine Art Kasten nieder, ziemlich groß, aus welchem Schnüre heraushingen, die sie auf die Erde legten. Diese Schnüre wurden angezündet. Das Feuer übertrug sich auf den Behälter, der plötzlich explodierte und aus dem eine schwarze Rauchwolke herauskam. Die Frauen und Kinder, halb irrsinnig und schreiend vor Angst, flohen in die Teile der Kirche, in denen noch Luft zum Atmen war. Die Tür der Sakristei wurde unter dem wilden Ansturm einer aufgeregten Gruppe eingedrückt.
Ich folgte dieser Gruppe und setzte mich resigniert auf die Stufen einer Treppe. Meine Tochter sah mich und kam zu mir. Die Deutschen, die gesehen hatten, dass die Explosion das Ziel verfehlt hatte, schossen jetzt wild auf jene, die versuchten zu fliehen. Mein Kind wurde in meiner Nähe durch einen Schuss von außerhalb der Kirche getötet. Eine wilde Schießerei war zu hören, dann wurden Stroh, Stühle und sonstige brennbare Gegenstände auf die Körper gelegt, die auf der Erde lagen.
Ich war dem Massenmord entronnen und hatte keine Verwundungen. So konnte ich mich geschützt von einer Rauchwolke hinter dem Altar verstecken. In diesem Teil der Kirche gibt es drei Fenster. Ich wendete mich gegen das größte, das sich in der Mitte befindet. Mit Hilfe einer Leiter, die sonst benutzt wird, um die Kerzen anzuzünden, erreichte ich das Fenster. Ich weiß nicht mehr, wie mir das gelungen ist. Meine Kräfte vervielfachten sich. Ich habe mich zu dem Fenster hinaufgezogen, so gut ich konnte. Die Scheiben waren zerbrochen und ich habe mich durch die Öffnung gezwängt. Ich machte dann einen Satz aus drei Metern Höhe.
Als ich zurückschaute, bemerkte ich, dass ich auf meiner Klettertour von einer Frau verfolgt wurde, die mir aus der Höhe des Fensters ihr Baby zuwarf. Dann sprang sie dicht neben mir herunter. Die Deutschen, alarmiert durch die Schreie des Kindes, schossen auf uns mit Maschinengewehren. Meine Begleiterin und ihr Baby wurden getötet. Ich selbst wurde verwundet, als ich versuchte, einen benachbarten Garten zu erreichen. Versteckt in einem Erbsenkrautbeet wartete ich verzweifelt auf Hilfe. Am nächsten Tag gegen 17 Uhr wurde ich dort entdeckt und gerettet.“

Deutsche legten falsche Fährten

204 Kinder wurden ermordet (© Martin Graf)

Noch während des Mordens begannen SS und Wehrmacht, das Massaker zu vertuschen und falsche Fährten zu legen: man habe Munition in jedem Haus gefunden; ein gefangener SS-Offizier sei hierhin verschleppt worden; man sei von Widerstandskämpfern angegriffen worden. Das ist eindeutig widerlegt. Es gibt Hinweise, dass die Aktion am Vorabend zwischen SS und Milice besprochen wurde. Die SS-Einheit handelte im Rahmen einer von der Wehrmacht beschlossenen und der SS-Division „Das Reich“ übertragenen „Säuberungsaktion“. Offen ist, wer konkret die Befehle gegeben hat. Die SS-Kommandeure Lammerding, Kahn, Stadler, Weidinger behaupteten, der – im Sommer 1944 gefallene – SS-Führer Diekmann habe eigenmächtig gehandelt. Er dürfte den Befehl aber kaum ohne Rückendeckung seiner Vorgesetzten gegeben haben. 

Prozesse

Der Internationale Militärgerichtshof bezeichnete in seinem Urteil von 1946 das Massaker von Oradour als ein „Beispiel für die organisierte Ermordung und Misshandlung der Zivilbevölkerung“ durch deutsche Verbände. 1953 standen vor dem Militärgericht in Bordeaux 21 einfache Soldaten, sieben deutsche und 14 zwangsweise zur Waffen-SS gepresste Elsässer (vgl. 'Malgré-Nous') – alle deutschen SS-Offiziere waren nicht erschienen. Das Gericht verurteilte einen Deutschen und einen elsässischen Freiwilligen zum Tode, die anderen zu Haftstrafen. Das Urteil gegen die zwangsweise in die SS eingezogenen Elsässer löste eine innenpolitische Krise aus: Die Elsässer waren aufgebracht; durch die wenige Tage nach dem Verdikt beschlossene Amnestie wurden ihre Verurteilungen praktisch aufgehoben. Das wiederum empörte und verletzte die Familien der Opfer und die Bevölkerung im Limousin; sie gaben ihre Auszeichnungen und Orden zurück, fortan wurden über Jahrzehnte offizielle Vertreter Frankreichs nicht mehr zu den jährlichen Gedenkzeremonien eingeladen.

In der Bundesrepublik wurde keiner der für das Massaker Verantwortlichen oder an ihm Beteiligten von einem Gericht verurteilt – im Gegenteil wurde „alles dafür getan ..., die Hauptverantwortlichen des Massakers, allen voran Divisionskommandeur Lammerding, vor einer Anklage bzw. einer Auslieferung nach Frankreich zu bewahren ...“ (A. Meyer). Der SS-Führer Heinz Lammerding war 1953 in Bordeaux in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Er wurde aber zeitlebens nie belangt, weil er von Deutschland nicht an Frankreich ausgeliefert und ihm andererseits nicht der Prozess gemacht wurde. In Ermittlungsverfahren wurde die alleinige Verantwortung dem toten Adolf Diekmann zugeschoben. In der DDR wurde der SS-Unterführer Heinz Barth 1983 vom Stadtgericht Berlin zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Im Januar 2014 klagte die Staatsanwaltschaft Dortmund – nach Auswertung des vor fast 30 Jahren geführten DDR-Verfahrens – einen 88jährigen ehemaligen SS-Soldaten wegen Beihilfe zum Mord an (vgl. auch Hervé/Graf, Oradour, S. 18ff.).

Gedenken

Blick ins „Märtyrerdorf“ 2011

Die Ruinen des Dorfes wurden im Zustand von 1944 erhalten ('village martyr'/Märtyrerdorf); im nördlichen Teil befindet sich der Friedhof. Zugang nur über das Centre de la mémoire. Jedes Jahr am 10. Juni gedenken die Einwohner/innen der Ermordeten des Massakers. Bundespräsident Gauck bat bei seinem Besuch in Oradour im Herbst 2013 die Bevölkerung um Verzeihung für die Untaten. Verantwortung für das Verbrechen und die Straflosigkeit der Mörder hat bisher kein deutscher Politiker übernommen.
1999 wurde das Centre de la mémoire (Zentrum des Gedenkens) eröffnet. Es stellt unter der Frage „Warum Oradour?“ eindrucksvoll den Weg der NS-Barbarei nach Oradour dar. Es wird jährlich von 100 000en besucht: http://www.cheminsdememoire.gouv.fr/fr/museosite-d-oradour-sur-glane; Centre de la mémoire, F-87520 Oradour-sur-Glane; www.oradour.org
Vgl. auch R. Jezierski/S. Boutaud, Die Oradour-Gedenkstätte, in: Hervé/Graf, S. 71ff.

 

 

Zentrum des Gedenkens

'Lied der Karawane von Oradour'

(Aragon 1949; Übersetzung Lydia Babilas; Quelle: Hervé/Graf, Oradour, S. 58f.) 

Wir ziehn nicht mehr nach Compostela
Den Pilgerstab muschelgeschmückt
Neuen Heiligen neue Altäre
Und neu wie unsre Lieder sind
die Transparente die wir tragen

Rückt vorwärts Karawanen ihr
Zu den vom Blut markierten Orten
In Frankreichs Herzen ruft die Wunde
Den Kindermord von Bethlehem
der Gleichgültigkeit ins Gedächtnis

Ihr die ihr eure Kinder überlebtGedenktafel an acht ermordete Familienmitglieder
Betet vergeblich Tag und Nacht
Daß sich die Strafe doch vollziehe
Vergeblich schreit die Erde nach Gerechtigkeit
Der Himmel weigert ihr den Regen


O Mütter die ihr ohne Liebe
Einsam auf eurer Helden Gräber sitzt
Dasselbe Tageslicht durchflutet
Oradours Trümmer und der Henker
Lebende Augen
 
Damit man morgen an Oradours Wiegen
Gedenktafel an 44 ermordete Lothringer/innen
Den Krieg nicht mehr wie unlängst erst
Den Tod aussäen sieht
Schloß fast eine Milliarde Herzen
Sich in der ganzen Welt zum Bund

Der Friede öffne endlich seine Schleusen 
Seine Gesetze soll das Volk diktieren
Wir die als Karawanen ziehen
Bringen dir Oradour-sur-Glane
die Taube an des Kreuzes Statt.

Literatur/Medien

Delarue, Jacques: Trafics et crimes sous l'occupation, 2. Aufl., Paris 1993, bes. S. 413ff., 478ff.
Hervé, Florence/Graf, Martin: Oradour. Geschichte eines Massakers / Histoire d'un massacre, Köln 2014; Vorauflage: Hervé, Florence /Graf, Martin: Oradour. Regards au-delà de l’oubli - Blicke gegen das Vergessen, Essen 1995
Fouché, Jean-Jacques: Oradour, Paris 2001
Kartheuser, Bruno: Walter, SD in Tulle. 4 Bände. Band 4: Die Erhängungen von Tulle. Ein ungesühntes Verbrechen, Neundorf 2008
Meyer, Ahlrich: Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000, S. 149ff.
Meyer, Ahlrich: Oradour 1944, in: Gerd R. Ueberschär: Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 176ff.
Dictionnaire historique de la Résistance, Paris 2006, S. 634f., 1014f.
Petit futé. Guide des lieux de mémoire, Paris 2005, S. 168ff.; Auflage 2011, S. 117f.
http://fr.wikipedia.org/wiki/Massacre_d'Oradour-sur-Glane
http://www.cheminsdememoire.gouv.fr/fr/museosite-d-oradour-sur-glane
http://www.oradour.org/fr/content/galerie-photos-et-videos (Fotos)