Alfons von Deschwanden, 1922 in Offenburg/Baden geboren, wuchs in einer katholischen Familie auf, die das NS-Regime ablehnte. Da sein Vater eine Autowerkstatt besaß, erlernte er den Beruf eines Automechanikers. Mitte der 30er Jahre verboten die Nazis jede nichtstaatliche Organisation, auch die „Katholische Jugend“, in der sich Alfons engagiert hatte; doch die Treffen wurden im Geheimen fortgesetzt. Im Juni 1941 wurde Alfons von Deschwanden als Gefreiter zur Wehrmacht eingezogen und als Automechaniker der technischen Einheit Heereskraftfahrpark 562 (HKP) in Vilnius zugeteilt, einem von Major Karl Plagge aus Darmstadt geleiteten, großen Reparaturbetrieb für Militärfahrzeuge. In diesem Betrieb übernahm von Deschwanden die Logistik für das Ersatzteillager, in dem neben wenigen deutschen Soldaten und polnischen Arbeitern zwölf jüdische Zwangsarbeiter eingesetzt waren. Obwohl darüber nicht offen gesprochen wurde oder dazu Befehle erteilt wurden, herrschte im HKP-Betrieb eine menschliche Atmosphäre und eine entsprechend menschliche Behandlung der Zwangsarbeiter. Dennoch war die Gefahr einer Denunziation auch im HKP gegenwärtig und gebot Vorsicht mit offenen Äußerungen. Viele der Zwangsarbeiter brachten keine für die Reparatur von Fahrzeugen erforderlichen Kenntnisse mit, aber sie wurden von Tag zu Tag zu qualifizierten Arbeitskräften ausgebildet und entwickelten zu ihnen wohlgesinnten deutschen Vorgesetzten Vertrauen. Deschwanden gehörte zu ihnen. Er half seinen Untergebenen, begleitete sie nach der Arbeit ins Ghetto, wenn sie Lebensmittel schmuggelten, war bei Kontrollen und Zählappellen der SS anwesend, versteckte bei „Aktionen“ der SS sogar Familienmitglieder der jüdischen Arbeiter im Ersatzteillager. Im Laufe der Zeit erfuhr er immer mehr über die unmenschlichen Lebensbedingungen und die ständige Todesbedrohung der Ghetto-Häftlinge.
Ende Juni 1944 – die Rote Armee stand vor Vilnius – begann der Rückzug der Wehrmacht, auch für den HKP. Alfons von Deschwanden, der das Ersatzteillager transportfähig machen musste, erhielt den für ihn, der keinerlei Waffenerfahrung besaß, ungewöhnlichen Befehl, als Verantwortlicher für das Maschinengewehr mit zwei anderen Gefreiten die Wache am Tor des Wohnlagers der HKP-Arbeiter zu übernehmen und Fluchtversuche der jüdischen Zwangsarbeiter zu verhindern. Von Deschwanden, der vermutete, Plagge habe ihn für diesen Dienst ausgewählt, sorgte dafür, dass nicht geschossen wurde, obwohl fliehende Lagerbewohner zu erkennen waren. Deshalb gelang es einer Reihe von Flüchtenden, aus dem Wohnlager zu entkommen und zu überleben. Die SS entdeckte am Morgen danach die erfolgreiche Flucht, doch entkam Alfons von Deschwanden, der wegen dieses „Wachvergehens“ in tödliche Gefahr hätte geraten können, einer Untersuchung, weil der HKP-Transport rasch erfolgte und er selbst damit die Gefahrenzone verlassen hatte.
1971 spürten Überlebende in Israel, die zu Deschwandens Untergebenen im HKP gehört hatten, Alfons von Deschwanden an dessen Wohnort in Offenburg auf. Ihre Briefe zeugen von der Dankbarkeit, die sie ihrem Retter entgegenbrachten. Shoshana Uspitz schrieb im Juli 1971: „Ich habe oft an Sie gedacht und jedes Mal Ihren Namen erwähnt, wenn ich von unserer wunderlichen Rettung erzählte. Sie waren für uns ein leuchtender Stern in der Dunkelheit ...“ und Samuel Taboryski verfasste im Juni 1977: „Sie ... begegneten uns so freundlich und mitleidsvoll, dass meine Frau, die sich plötzlich in einem sauberen, beleuchteten Raum sah und soviel Freundlichkeit begegnete, zu weinen begann.“
Alfons von Deschwanden starb am 08. September 2015 in Offenburg, er hatte von der Ehrung Karl Plagges als „Gerechter unter den Völkern“ jedoch erfahren. Er selbst hat erst ein Jahr vor seinem Tod in seiner Heimatstadt öffentlich – aber in großer Bescheidenheit – von seinen Erfahrungen in Vilnius 1941/44 gesprochen.
Literatur / Medien
Good, Michael: Die Suche. Karl Plagge, der Wehrmachtsoffizier, der Juden rettete, Weinheim u. Basel 2006, S. 241–258; Karl Plagge – Ein Gerechter unter den Völkern. Begleitheft zur Ausstellung, hrgs. von der Darmstädter Geschichtswerkstatt e.V., 4. Aufl. 2010 (unter http://www.darmstaedter-geschichtswerkstatt.de)
http://www.tenhumbergreinhard.de/1933-1945-lager-1/1933-1945-lager-w/wilna-vilnius-frauenlager.html
Der Lebenslauf von Alfons von Deschwanden sowie die Briefe von Uspitz und Taboryski finden sich unter: http://www.searchformajorplagge.com
Fotos: privat