Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Überleben im Ghetto war der Besitz eines Arbeitsscheins. Arbeitsscheine wurden für Arbeitsfähige, die zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden, ausgestellt. Wer nicht mehr arbeitsfähig war, wurde früher oder später bei Aktionen ermordet. Der erste Schritt bestand in einer pauschalen Aussonderung von Alten und Kranken, die zu tausenden an Massenmordplätze deportiert und ermordet wurden. Der zweite Schritt bestand in der Einführung von Arbeitsscheinen, die der genauen Erfassung, Kontrolle und am Ende der Selektion dienten. Eine Unzahl von Scheinen suggerierte der Bevölkerung eine scheinbare Existenzsicherheit:
• Scheine mit und ohne Fotografien
• Weiße Scheine des Arbeitsamts und weiße Scheine des Judenrats
• Weiße Scheine mit der Aufschrift „Facharbeiter“
• Gelbe Scheine mit der Aufschrift „Facharbeiter“
• Gelbe Lebensmittelscheine
• Gelbe und rosa Familienzettel
• Rosa Schutzscheine
• Grüne, blaue und violette Zugabescheine
• Rote Arbeitsbücher
• Gelbe Ghettopässe
• usw. usw. usw.
Mitte Oktober 1941 wurden zum Beispiel im Ghetto von Vilnius 3.000 Scheine für Arbeiter und Arbeiterinnen genehmigt. Die Ausgabe begann mit der Registrierung von Ehepartnern mit zwei Kindern unter sechzehn Jahren. Diese Methode ergab 12.000 von den Besatzern behördlich genehmigtes Leben (Schröter 2008). In den Ghettos begann daraufhin eine hektische Suche nach Möglichkeiten, Familienangehörige, die keine Berechtigung erhielten, unterzubringen: durch Heirat, Adoption oder Gründung neuer Familien. In den ersten Monaten nach Beginn der Ausgabe von Scheinen wurden mehrere tausend Menschen „ohne Schein“ ermordet.
„Sie verschleppten nicht alle zur gleichen Zeit, sondern führten Kategorien ein und unterschieden zwischen Bevorzugten und Nichtbevorzugten. Die Besitzer von weißen Arbeitsbescheinigungen hielten sich anfangs für die Auserwählten, für die Glücklichen, die am Leben gelassen würden, weil sie für die Deutschen arbeiteten ... Doch bekanntlich sahen sich die Glückspilze wenig später betrogen. Die ‚Facharbeiter’-Aufdrucke wurden eingeführt, und nun wurden die noch gestern Bevorzugten wie nutzlose Elemente zum Schlachthof geführt. Anschließend wurden die neuen Glückspilze mit dem Facharbeiter-Stempel ebenfalls liquidiert, und die Rolle der Glückspilze nahmen nun die Besitzer gelber Scheine ein. So wurden Tausende von Menschen ... von den Deutschen nacheinander zusammengetrieben und erschossen“ (Schur 1999).
Im Dezember 1941 erklärte Karl Jäger, Chef des Einsatzkommandos 3, die „Judenaktionen“ im wesentlichen für abgeschlossen. Da Arbeitskräfte dringend gebraucht wurden, wurden die Selektionen und Massendeportationen vorläufig eingestellt. Bis zum Frühjahr 1943 herrschte eine Phase relativer „Stabilität“ und einer „Konsolidierung der Institutionen“ im Ghetto (Arad 1982).
Literatur / Medien
Arad, Yitzhak: Ghetto in Flames. The Struggle and Destruction of the Jews in Vilna in the Holocaust, New York 1982, S. 273-295, S. 296ff.; Bubnys, Arūnas: The Holocaust in Lithuania between 1941 and 1944, Genocide and Resistance Research Centre of Lithuania, Vilnius 2008 (Foto Weißer Familienschein, S. 30); Jäger-Bericht in: Bartusevičius u.a. (Hg.): Holocaust in Litauen, 2003, S. 303ff. (hier S. 309f.); Kostanian-Danzig, Rachel: Spiritual Resistance in the Vilna Ghetto, Vilnius 2002 (Foto Gelber Arbeitsschein, S. 32); Schröter, Gudrun: Worte aus einer zerstörten Welt. Das Ghetto in Wilna, St. Ingbert 2008, S. 129ff. (hier S. 130, 134); [Schur, Grigorij] Die Juden von Wilna. Die Aufzeichnungen des Grigorij Schur 1941–1944, hrsg. von Wladimir Porudominskij, München 1999 (Zitat S. 92/93)