Die aus Venedig stammende Bezeichnung „Ghetto“ geht auf jenen Wohnbezirk zurück, der den in der Stadt Ende des 16. Jahrhunderts lebenden Juden und ihren Familien zugewiesen worden war. Später entstanden auch in anderen europäischen Städten jüdische Wohnbezirke, die jedoch im 18. und 19. Jahrhundert nach und nach aufgelöst wurden. Ihre Bewohner erhielten Bürgerrechte und damit die Möglichkeit, ihren Wohnort in der Stadt zu wählen.
Im Zweiten Weltkrieg ordnete die deutsche Besatzungsmacht nach dem Überfall auf Polen (1939) und dem Einmarsch in die Sowjetunion (1941) als Teil der Judenverfolgung zunächst in Polen die gewaltsame Umsiedelung der jüdischen Bevölkerung in Ghettos an, ohne dass es anfangs einen zentralen Befehl hierfür gegeben hätte. Die größten Ghettos entstanden 1940/1941 in Warschau, Łódź, Lublin und Krakau. Sie waren brutale Internierungslager mit unmenschlichen Lebensbedingungen und verbunden mit Zwangsarbeit in und außerhalb der Ghettos. In einzelnen Ghettos entwickelte sich trotz Hunger, Elend und Chaos kulturelles und religiöses Leben, auch vielfältige Hilfsbereitschaft, nicht zuletzt jüdischer Widerstand, dessen Angehörige gegen Ende der Okkupation und nach Auflösung der Ghettos sich, sofern sie überlebt hatten, antifaschistischen Partisaneneinheiten angeschlossen haben. Ingesamt stellten Ghettos jedoch für alle inhaftierten Juden prinzipiell die Vorstufe zur Vernichtung dar, der nur wenige entkommen sind.
Nach der deutschen Invasion der Sowjetunion im Juni 1941 wurden von August 1941 an auch in Litauen abgeriegelte und streng bewachte Ghettos errichtet, deren Alltag von Anfang an mit Aktionen – „Selektionen“ z.B. von nicht Arbeitsfähigen oder angeblich Widerstand Leistenden – mit dem Ziel der Ermordung von kleinen oder größeren Gruppen oder aller Ghettogefangenen verbunden war. Die Deportation und Ermordung „selektierter“ Opfer fand unter dem Kommando vor allem der Einsatzgruppe A, des Einsatzkommandos 3 (SS) und der Besatzungsverwaltung (SD, Gestapo) mit Hilfe litauischer Hilfstruppen statt, meist an nahe gelegenen Mordstätten (z.B. Paneriai, Kaunas/IX Fort). Die großen Ghettos in Litauen mit tausenden oder mehr dort gefangener Juden befanden sich in Vilnius und Kaunas, auch in kleineren Städten (z.B. Šiauliai und Švenčionys) wurden Ghettos errichtet. Die örtlichen Besatzungsbehörden befahlen in städtischen Ghettos die Bildung eines Judenrats, der unter den Bedingungen des von Beginn an praktizierten Terrors eine Ghetto-Selbstverwaltung zu organisieren und für Ordnung durch eine eigene Ghetto-Polizei zu sorgen hatte. Diese aufgezwungene Selbstverwaltung führte (wenn auch nicht immer erfolgreich) vielfach zu erpresster Kollaboration zwischen Judenrat und Besatzung bei Repressionsmaßnahmen, bei Arbeitseinsätzen und auch bei Deportationen.
Die Auflösung („Liquidierung“) der Ghettos, die Himmler 1943 für die Besatzungsgebiete in der Sowjetunion anordnete, bedeutete für die Gefangenen fast ausnahmslos die Deportation und Ermordung in Vernichtungslagern. Nur ein kleiner Teil der Ghettohäftlinge blieb in besonderen Arbeitslagern – in Vilnius z.B. im sog. HKP und der Kailis-Fabrik – zurück, die meisten auch dieser Zwangsarbeiter wurden noch kurz vor der Befreiung ermordet. Beim Eintreffen der Roten Armee in Litauen im Juli 1944 existierten keine Ghettos mehr.
Literatur / Medien
Enzyklopädie des Holocaust, hrsg. von Jäckel / Longerich / Schoeps, München 1995; Dieckmann 2011, Bd. 2, S. 929ff.; Ders. / Sužiedėlis, Saulius: The Persecution and Mass Murder of Lithuanian Jews during Summer and Fall of 1941, Vilnius 2006, S. 144ff.; Matthäus, Jürgen: Ghetto, in: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, hrsg. von Wolfgang Benz u.a., München 2007, S. 538; Michman, Dan: Where Did the Nazis Take the Term "Ghetto" From and Why? (Yad Vashem Video Lecture Series unter: http://www.yadvashem.org/holocaust/video-lectures?oldsite=true);
https://de.wikipedia.org/wiki/Ghetto
https://www.ushmm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10005059
http://www.jewishvirtuallibrary.org/history-and-overview-of-ghettos
http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus