Im September 1941 wurde die Familie Reches mit den anderen Juden der Stadt in das Ghetto von Vilnius getrieben. Isaak war neun Jahre, Josif elf Monate alt. Ihr Vater, Gerschon Reches, von Beruf Dachdecker und Klempner, wurde von Karl Plagge im Heereskraftpark 562 (HKP) als Organisationsleiter und Vorarbeiter eingestellt und erhielt für die ganze Familie – Ehefrau, beide Söhne, Eltern, Schwestern und Brüder – überlebenswichtige Arbeitsausweise. Karl Plagge hatte die gesamte Familie nach Auflösung des Ghettos im September 1943 in das HKP-Arbeitslager gebracht und sie vor allen Aktionen geschützt. Isaak und Josif Reches überlebten auch die berüchtigte „Kinderaktion“ im März 1944 in einem Versteck. Danach durften Kinder im HKP-Lager die Wohnungen nicht mehr verlassen, um nicht aufzufallen. Eines Tages betrat ein SS-Mann überraschend die Wohnung der Familien Reches und sah dort den dreijährigen Josif, der sich später erinnert: „Er [der Deutsche] brachte zunächst kein Wort heraus, kochte dann vor Wut und schrie los. Mama kniete nieder, ich weinte und flehte ihn auf Jiddisch:‚Deutsch, guter Deutsch, loss mir iber!“ [Deutscher, guter Deutscher, lass mich leben! (Bericht Reches)]. Er hatte Mitleid und verschwand.
Nach der Warnung Karl Plagges am 1. Juli 1944 vor der Übernahme des Lagers durch die SS mauerte Gerschon Reches seine Frau und die beiden Kinder in eine von ihm vorbereitete Wandnische ein. Diese Nische befand sich in der ca. einen Meter dicken Gebäudewand zum Korridor. Gerschon Reches selbst ließ sich in einen Kamin einmauern. Die Qual für Mutter und beide Kinder in dem engen Versteck mit spärlichen Vorräten, einer Teekanne mit Wasser und einem Kindertopf dauerte fünf Tage, bevor sie – halb verhungert und fast erstickt – von ihrem Vater, der ebenfalls überlebt hat, herausgeholt wurden. Am 9. Juli 1944 befreite die Rote Armee das HKP-Lager. „Der erste Soldat, den mein Vater erblickte, war ein einfacher russischer Soldat. … [Dieser] war bei unserem Anblick sehr erschüttert. Er hatte nicht erwartet, überhaupt noch lebendige Menschen zu treffen“ (Bericht Reches).
Nach der Befreiung 1944 lebten beide Brüder in Vilnius. Isaak studierte Medizin und wurde Arzt, Josif Reches Elektroingenieur. Beiden Brüdern ist es mit zu verdanken, dass die Recherchen nach Karl Plagge im Jahr 1999 aufgenommen worden. „Nach dem Krieg hat sich mein Vater intensiv bemüht, etwas über das Schicksal eines Menschen zu erfahren, dem etwa 300 Juden ihr Leben verdanken. Diese Nachforschungen waren in der Sowjetzeit unmöglich. Jetzt versuchen wir, das väterliche Testament zu vollstrecken und würden sehr gerne die Kinder oder Angehörigen des Majors ... Plagge nach Vilnius einladen. Er war ein deutscher Wallenberg … „ (Bericht Reches).
Josif starb 2008, Isaak 2009. Sie haben die Ehrung Karl Plagges als „Gerechter unter den Völkern“ im Jahr 2005 noch erlebt.
Literatur / Medien
Reches in: Viefhaus, Marianne: Zivilcourage in der Zeit des Holocaust. Karl Plagge aus Darmstadt, ein "Gerechter unter den Völkern", hrsg. von der Darmstädter Geschichtswerkstatt e.V. und dem Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt, Darmstadt 2005, Bericht S. 46–47; Viefhaus, Marianne: Für eine Gemeinschaft der "Einsamen unter ihren Völkern". Major Karl Plagge und der Heereskraftfahrpark 562 in Wilna, in: Wette, Wolfram (Hg.): Zivilcourage. Empörte, Helfer und Retter aus Wehrmacht, Polizei und SS, Frankfurt/M. 2003, S. 97–113
http://www.darmstaedter-geschichtswerkstatt.de/Reches/
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