Woiwodschaft Lublin/Wojew. Lubelski
Eine Häftlingsgruppe um Leon Felhendler und Aleksandr Petscherski löste den Häftlingsaufstand am 14. Oktober 1943 aus. 12 deutsche SS-Männer und zwei ukrainische Wachleute wurden getötet, über 300 der noch 600 (Arbeits-)Häftlingen gelang die Flucht, etwa 50 erlebten das Kriegsende. Ein unerhörter Akt, Symbol für Widerstand in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern: Überlebende konnten über die „Hölle von Sobibor“ berichten.
Vor dem Aufstand
Es hatte einzelne Widerstandsakte und Fluchten aus dem Lager gegeben, u.a. aus dem 'Waldkommando'; andere Fluchtversuche wurden verraten und blutig bestraft: nach der Entdeckung eines Tunnels im Lager 3 wurden alle Arbeitshäftlinge erschossen. Im Frühjahr 1943 kamen immer weniger Transporte im Lager an. Es gab Gerüchte, dass das Lager aufgelöst würde; die Häftlinge meinten, dass das ihren Tod bedeuten würde.
Als die letzten Arbeitshäftlinge aus Belzec, die das Vernichtungslager abreißen mussten, nach Sobibor gebracht und dort erschossen wurden, fanden Häftlinge in ihrer Kleidung Zettel mit Warnungen wie: „… Versteht endlich, dass nach uns auch auf Euch der Tod wartet. Rächt uns“ (Schelvis, a.a.O., S. 172). Es kamen erste Nachrichten über den Häftlingsaufstand in Treblinka sowie über den Vormarsch der Roten Armee.
Eine Untergrundkomitee von 10 bis 12 Häftlingen um Leon Felhendler diskutierte über Fluchtmöglichkeiten; in der Gruppe gab es aber niemanden, der sie in praktische Pläne umsetzen konnte. Die Lage änderte sich, als am 23. September 1943 ein Transport mit 2000 Juden aus dem sowjetischen Minsk (heute: Belarus) eintraf, darunter auch russisch-jüdische Kriegsgefangene, ehem. Soldaten der Roten Armee. Als SS-Mann Frenzel nach Tischlern und Zimmerleuten fragte, meldete sich auch Aleksandr Petscherski, ein Leutnant der Roten Armee, und wurde genommen. Felhendler nahm Kontakt zu ihm auf. Bald wurde ein Aufstandskomitee gegründet, dem sowjetische und polnische Juden angehörten. Sie verwarfen die „Tunnellösung“, u.a. wegen des sumpfigen Geländes und entwickelten in kurzer Zeit einen, bis in die konkreten Schritte durchdachten Plan. Er wurde erst kurz vorher einem kleinen Kreis von Häftlingen mitgeteilt.
Häftlingsaufstand am 14. Oktober 1943
„Wenn irgendjemand überlebt, bezeugt, was an diesem Ort geschehen ist ! Sagt der Welt die Wahrheit über diesen Ort!“ (A. Petscherski)
Ziel des Aufstands war es, möglichst vielen Gefangenen die Flucht zu ermöglichen. Dies könne nur gelingen, wenn vorher möglichst alle, auf jeden Fall und möglichst viele T 4/SS-Männer, die schon so viele Menschen ermordet hatten, getötet/aus dem Weg geräumt wurden. Die SS-Leute sollten einzeln in Werkstätten kommen, um z.B. bestellte Kleidung oder Schuhe anzuprobieren, und dabei getötet werden.
Am 14. Oktober, an dem wichtige SS-Leute wegen Dienstreisen oder Urlaub nicht anwesend waren, wurden ab 16 Uhr nacheinander SS-Männer in die Schreiner,- Schneider-, Schuster-Werkstatt bestellt und bei der Anprobe mit Äxten erschlagen und unter Stoffen etc. versteckt; oder bei der Rechnungsprüfung. Alles lief bisher nach Plan, der Strom war abgestellt, Gewehre warenaus der Waffenkammer besorgt worden.
Es gab zwei Probleme: Ein Wachmann blieb zwischen den Gebäuden liegen. Darauf lösten Petscherski und Felhendler den Lager-Appell 15 Minuten früher als sonst aus. Das verwirrte viele Häftlinge, insbesondere die nicht „Eingeweihten“. Petscherski rief den Gefangenen zu: „Brüder, der Moment der Entscheidung ist da. … Wir haben wenig Chancen zu überleben, aber dann werden wir wenigstens im Kampf ehrenvoll sterben. Wenn irgendjemand überlebt, bezeugt, was an diesem Ort geschehen ist. Sagt der Welt die Wahrheit über diesen Ort.“ Als die ersten in Richtung Haupttor rannten, kam der SS-Mann Erich Bauer zurück und sah den Wachmann auf dem Boden und begann sofort zu schießen. Unter den Kugeln der Wachleute und anderen SS-Männer liefen viele in Richtung Haupttor oder versuchten, durch Löcher im Stacheldrahtzaun zu entkommen, viele blieben getroffen liegen. Am späten Nachmittag hatten etwa 200 der 300 - 365 ausgebrochenen Häftlinge den Wald erreicht,
über 300 waren erschossen worden, darunter jeweils 60 aus den Lagern 3 und 4, die keine Möglichkeit gehabt hatten, zu fliehen und gleich erschossen worden waren.
Zur Zahl der Häftlinge, die das Kriegsende erlebt haben, gibt es unterschiedliche Angaben: Thomas Blatt nennt 62 Namen, davon acht Frauen (Blatt, Schatten , a.a.O., S. 303), Schelvis geht von 47 Häftlingen aus; vgl. Liste der Überlebenden bei Schelvis, a.a.O., S. 284-293; https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_%C3%9Cberlebenden_des_Vernichtungslagers_Sobibor . „Ohne den Aufstand hätte es keine Überlebenden gegeben, die den Massenmord hätten bezeugen können“ (Schelvis, a.a.O., S. 192/3)
Nach dem Aufstand
Die Häftlinge, die durch das Tor gelaufen und den Minengürtel überwunden hatten, liefen meist in kleinen Gruppen in den Wald, wo sie anfangs relativ sicher waren – bis spätestens am nächsten Morgen die systematische Suche durch dt. Wehrmacht und Polizeikräfte einsetzte. Ein Teil strebte weiter in Richtung Bug, um dort überzusetzen nach Weißrussland (so sieben sowjetische (Petscherki, S. 110), aber auch polnischen Juden. Leon Felhendler kam nach Lublin; dort wurde er – unter bis heute nicht eindeutig geklärten – Umständen im April 1945 umgebracht.
Andere kreisten in den Wäldern um Sobibor, baten bei Bauern um Unterkunft und etwas zu Essen und Trinken, einzelne konnten einen oder gar mehrere Tage bleiben (so Chaim und Selma Engel), manche wurden verraten. Andere schlossen sich Partisanen an. Kalmen Wewerik wanderte ruhelos wochenlang durch die ihm von früher bekannten Wälder, er schlief am Tag, manchmal wurde er abgewiesen; zum Schluss traute er niemandem mehr. Die Deutschen hatten allen schwere Strafen angedroht, die flüchtige Häftlinge aufnehmen.
Toivi Blatt ging monatelang in den Wäldern und Dörfern um Izbica umher, bat um Wasser, Brot und Unterkunft (S. 206ff.), wurde bedroht und entkam, kam zurück in sein Dorf Izbica. Das Elternhaus war zerstört bzw. von anderen bewohnt, bei den Bäckern fand er Arbeit und Unterkunft – bis eines Tages Dorfbewohner nach ihm suchten und ihn vertreiben wollten (Blatt, Schatten, a.a.O., S. 294ff.). S.a. Zbereze Lubelski sowie die Berichte von Philip Bialowicz, a.a.O., S.139ff. und von F. Bruder, a.a.O., S. 65-116. Manche blieben in Polen, viele wanderten aus.
Auflösung und Abriss des Lagers
Alle Häftlinge, die im Lager blieben oder nicht hatten fliehen können, wurden von der SS am nächsten Tag erschossen. Danach ließ sie, auch mit Hilfe von Gefangenen aus Treblinka, alle Unterlagen vernichten, das Lager abreißen, die Trümmer der Gaskammern mit Zügen abtransportieren. Man planierte das Gelände, pflanzte Bäume und setzte ein „Bauernhaus“ darauf; ein Trawniki-Mann spielte den Bauern. Am 23. November wurden die restlichen Häftlinge erschossen. Niemand und nichts sollte an die Morde erinnern.
Literatur/ Medien
Berger, Sara: Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka, Hamburg 2013
Bialowitz, Philip „Fiszel“: A promise at Sobibór. A Jewish boy's story of revolt an survival in Nazi-occupied Poland, Madison/Wisconsin 2010
Bildungswerk Stanislaw Hantz u.a. (Hg.): Fotos aus Sobibor. Die Niemann-Sammlung zu Holocaust und Nationalsozialismus, Berlin 2020
Blatt, Thomas „Toivi“: Sobibór - der vergessene Aufstand, Hamburg/Münster 2010
Blatt, Thomas Toivi: Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór, Berlin 2000
Bruder, Franziska: Hunderte solcher Helden. Der Aufstand jüdischer Gefangener im NS-Vernichtungslager Sobibor, Hamburg/Münster 2013
Kopciowski, Adam: Lejba (Leon) Felhendler. A biographical sketch, Lublin 2018
Petscherski, Aleksandr: Bericht über den Aufstand in Sobibor, Berlin 2018
Rashke, Richard: Flucht aus Sobibor, Gerlingen 1998
Schelvis, Jules: Vernichtungslager Sobibór, Hamburg/Münster 2003
Wewryk, Kalmen: Nach Sobibor und zurück, Berlin 2020
https://de.wikipedia.org/wiki/Aufstand_von_Sobib%C3%B3r
Filme
Gold, Jack: Escape from Sobibor, USA 1987; dt. : Flucht aus Sobibor; DVD deutsch/englisch 2012
Lanzmann, Claude: Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures, Frankreich 2001; dt.: Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr