In Frankreich werden folgende Begriffe verwendet: Gitans, Bohémiens, Manouches, Roms, Romanichels, Sintis, Tsiganes; Gens du voyage oder Nomades sind Nichtsesshafte, Landfahrer.
Über die Zahl der im Herbst 1939 in Frankreich lebenden nomades, ambulanten Händler und Schausteller gibt es keine exakten Zahlen. Mit Kriegsbeginn sperrten die Behörden „aus Gründen der öffentlichen Ordnung“ bestimmte Gebiete für „nomades“ und wiesen ihnen (Zwangs-) Aufenthaltsorte zu.
Stigmatisierung, Kontrolle und Überwachung
Das Gesetz vom Juli 1912 – im Vorfeld des 1. Weltkriegs – schrieb für alle nomades (umherreisende Landfahrer ohne festen Wohnsitz oder ständigen Wohnort) einen anthropometrischen Ausweis vor: mit Abdruck aller Finger und Foto – wie er für Kriminelle vorgesehen war; sie mussten sich in jeder Gemeinde an- und abmelden; für die Familiengruppe gab es einen Kollektivausweis. Dahinter standen Stereotypen wie vom „spionierenden und stehlenden Zigeuner“.
Zu Beginn des 2. Weltkriegs wurden noch unter der 3. Republik erste Zwangsmaßnahmen verfügt: In acht westlichen Departements wurde ihnen der Aufenthalt verboten. Das Dekret vom 6. April 1940 untersagte das Umherziehen für die Dauer des Krieges; in jedem Departement sollten sie an einem Ort zusammengefasst (konzentriert) werden, den sie nur mit Genehmigung verlassen konnten ('assignation à résidence').
Internierung
Im Herbst 1940 wies die Wehrmacht alle „Zigeuner“ aus der Sicherheitszone entlang der Atlantikküste aus. Am 4. Oktober 1940 befahl die deutsche Wehrmacht den französischen Behörden der besetzten Nordzone, „Zigeuner“ („Tsiganes“) in von frz. Polizei bewachten Lagern zu internieren: „Die Zigeuner, die sich in der besetzten Zone aufhalten, sind in Internierungslager zu bringen, die von französischer Polizei überwacht werden ...“ Kurz darauf untersagte sie in 21 westlichen Departements die Ausübung des Wandergewerbes, z.B. ambulante Händler, Schausteller. Die aus rassistischen Motiven handelnden Deutschen erweiterten dabei den Personenkreis der französischen Dekrete von 1912 und 1940, die sich vor allem auf die „nomades“ (Landfahrer) bezogen. Es entstanden zahlreiche kleine Lager, in denen z.T. auch Landstreicher und 'clochards' interniert wurden – vgl. z.B. Moisdon-la-Rivière (Pays de la Loire).
In der deutsch besetzten Nordzone wurden schätzungsweise 3000 bis 5000 Menschen als „Zigeuner“ in französischen Lagern interniert (Peschanski), manche gehen von bis zu 6500 aus (Filhol). Die wichtigsten Lager waren Arc-en-Senans (Doubs), Jargeau (Loiret), Mérignac (Gironde), Montreuil-Bellay (Maine-et-Loire), Poitiers (Poitou-Charentes) und Saint-Maurice-aux-Riches-Hommes (Burgund). Neben Hunger und Krankheiten hatten die Landfahrer/innen insbesondere darunter zu leiden, dass sie eingesperrt wurden, ohne ein Vergehen begangen zu haben; sie wurden eines zentralen Elementes ihrer Lebens (Umherziehen) beraubt.
Die Lager für „tsiganes“ wurden zumindest anfangs von frz. Behörden „camp de concentration“ (Konzentrationslager) genannt. Sie waren aber nicht vergleichbar mit Konzentrationslagern. Es wurden ganze Familien eingesperrt. Die Ernährungs- und hygienische Situation der um ihre Freiheit gebrachten Männer, Frauen und Kinder war z.T. sehr kritisch. Die Sterblichkeit war vor allem in den ersten Jahren hoch. Viele Menschen, insbesondere Kinder, starben infolge Unterernährung, Krankheiten.
Die tsiganes/nomades im von Nazideutschland faktisch annektierten Elsass wurden nach Innerfrankreich ausgewiesen, wo sie in Lager gesperrt wurden. Im SS-Sicherungslager Schirmeck waren eine Anzahl inhaftiert. In das deutsche KZ Natzweiler-Struthof und seine Außenlager wurden ab 1943 etwa 500 Sinti und Roma deportiert; Ausgangpunkt waren meist andere KZ. Im November/Dezember 1943 kamen fast 190 Sinti und Roma, darunter auch französische, aus dem KZ Auschwitz an. Viele wurde Opfer pseudomedizinischer Experimente der Prof. Eugen Haagen und Otto Bickenbach.
In der nicht besetzten Südzone wurden den Landfahrern entsprechend dem französischen Gesetz von 1940 (Zwangs-)Wohnorte zugewiesen (z.B. Apt im Departement Vaucluse). Internierungslager für nomades/tsiganes gab es zunächst nicht – allerdings wurden in zahlreichen Lagern für Ausländer, republikanische Spanier oder Juden auch Landfahrer interniert – z.B. in Argèles, Le Barcarès, Rivesaltes. Die Vichy-Regierung eröffnete zwei Lager: Saliers bei Arles in der Camargue (Bouches-du-Rhône), in das die Elsässer und Lothringer 'Zigeuner' eingewiesen wurden, und Lannemezan in den Pyrenäen. Nach Schätzungen wurden in diesen Lagern 600 „Zigeuner“ interniert.
Deportationen
Anders als in den meisten von Nazideutschland besetzten Ländern gab es für französische „Zigeuner“ offenbar keinen allgemeinen deutschen Deportationsbefehl (s.a. Abschnitt 'Porajmos'). Die „Zigeuner“ wurden in der Regel interniert, aber nicht deportiert. Ausnahmen waren z.B.:
Aus dem Internierungslager Poitiers wurden 1942/43 etwa 100 tsiganes in die KZ Sachsenhausen bzw. Buchenwald deportiert und wahrscheinlich als Zwangsarbeiter in deutschen Rüstungsbetrieben eingesetzt (im Rahmen der STO bzw. des Vorläufer-Programms 'Relève').
Aus Malines/Mechelen (Belgien) wurden 351 belgische, holländische und französische Sinti und Roma in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert – im Rahmen der vom RSHA angeordneten Deportation von 'Zigeunern' aus den besetzten Gebieten Belgiens und der Niederlande; ungefähr die Hälfte stammte aus dem französischen Nord – Pas-de-Calais, das dem deutschen Befehlshaber für Belgien unterstand. Nur zwölf kehrten zurück.
Verspätete Befreiung
Die Befreiung Frankreichs ab dem Spätsommer 1944 bedeutete nicht automatisch Freiheit für die internierten Sinti und Roma/„tsiganes“ und „nomades“. Der anhaltende Krieg diente als Vorwand, sie weiterhin festzuhalten. Daneben waren es aber auch alte Vorbehalte gegen das über 1000 Jahre alte Volk. 1945 bestanden noch zwei Lager mit 923 Internierten. Das Lager Jargeau wurde im Dezember 1945 geschlossen. Die letzten Internierten konnten das Lager Les Alliers bei Angoulême erst Ende Mai/Anfang Juni 1946 verlassen. Präsident Hollande nannte besonders die nach der Befreiung anhaltende Internierung „schwer verständlich“.
Viele fanden nach ihrer Befreiung die Pferde und Planwagen, mit denen sie hergekommen waren, nicht wieder. Sie erhielten keinerlei Hilfe. Nur wenigen gelang es, viele Jahre später, als 'politisch inhaftiert' anerkannt zu werden.
Gesetz von 1969: Schritt zur Integration statt Exklusion
Erst 1969 wurde das Gesetz von 1912, u.a. der diskriminierende anthropometrische Ausweis und der Meldezwang abgeschafft, nicht nur für Tsiganes sondern für alle, die in Frankreich ohne festen Wohnsitz umherziehen. Ein Bruch mit der Politik des Ausschlusses, erste Schritte, um die Zurückweisung der Tsiganes durch eine Politik der Integration zu ersetzen.
Erinnerung und Gedenken
Sie setzten erst spät ein. Bauliche Reste der Lager existieren praktisch nicht mehr. Die ersten Bücher erschienen in den 1980er Jahren. Später wurden – meist in privater Initiative – Erinnerungstafeln oder Gedenksteine angebracht, z.B. in Angoulême, Montreuil-Bellay, Jargeau, Poitiers (1985), Lannemezan. Der Verbrechen wird am Nationalen Gedenktag für die Opfer rassistischer und antisemitischer Menschheitsverbrechen gedacht (letzter Samstag oder Sonntag im April).
Nach langer Vorbereitung und Diskussion wurde 2016 eine nationale Gedenkstätte/mémorial nationale des tsiganes auf dem Gelände des ehemaligen Internierungslagers in Montreuil-Bellay eingeweiht. Präsident Hollande bekannte sich erstmals offiziell zur Verantwortung der Französischen Republik: „Die Republik anerkennt das Leid der Nomades, die interniert worden sind, und bekennt, dass seine Verantwortung an diesem Drama groß ist.“
Porajmos – NS-Völkermord an den Sinti und Roma in Europa
In Deutschland und in den von Nazi-Deutschland besetzten europäischen Ländern lebende Sinti und Roma wurden deportiert und hunderttausende ermordet. Die Gründe, weshalb die deutschen Besatzer in Frankreich zwar die Internierung der 'tsiganes' und 'nomades' in französischen Lagern verlangt, aber ihre massenhafte Deportation und Ermordung nicht betrieben haben, liegen nach wie vor im Dunklen.
Nach der Invasion Polens wurden 1940 Sinti und Roma in Ghettos im deutsch besetzten Polen (z.B. Litzmannstadt/Lodz) deportiert. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juli 1941 wurden Sinti und Roma im Baltikum (z.B. Litauen), der Sowjetunion, in Serbien und anderen Balkan-Ländern systematisch durch SS-Einsatzgruppen und Wehrmachtseinheiten erschossen. Ab 1942 wurden zehntausende in den Vernichtungslagern wie Kulmhof, Sobibor oder Treblinka durch Gas ermordet. Nach Hitlers „Auschwitz-Erlass“ vom 16. Dezember 1942 wurden über 22500 Sinti und Roma in das „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau verschleppt. Im Mai 1944 scheiterte der Versuch der Lagerleitung, die damals noch 6000 Häftlinge des „Zigeunerlagers“ in die Gaskammern zu schicken, am Widerstand der Häftlinge, 3000 wurden in andere KZ gebracht, die anderen am 3. August 1944 ermordet. Die Anerkennung des Völkermords an den Sinti und Roma hat lange gedauert.
Literatur/Medien
Auzias, Claire: Samudaripen. Le génocide des Tsiganes, Paris 1999
Awosousi, Anita/Pflock, Andreas: Sinti und Roma im KZ Natzweiler-Struthof, Heidelberg 2006
Filhol, Emmanuel: La mémoire et l'oubli. L'internement des tsiganes en France 1940–1946, Paris 2001
ders.: Indifference collective au sort des Brigantines internés dans les camps français 1940–1946 (= http://www.cairn.info/revue-guerres-mondiales-et-conflits-contemporains-2007-2-page-69.htm)
Peschanski, Denis: Zigeuner in Frankreich 1912–1969. Eine Periode durchgehender Stigmatisierung, in: Zimmermann, Michael (Hg.): Zwischen Erziehung und Vernichtung – Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, S. 268ff.
(www.open-memory.info/content/deportation-frankr_belgien/zigeuner_frankreich_peschanski.pdf)
reds: Les brigantines DE France 1939–1946, Paris 2002
*) Pigani, Paola: N'entre pas dans mon âme avec tes chaussures, Paris 2013
Rose, Romani (Hg.): Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, Heidelberg 1995
Sigot, Jacques: Des barbelés oubliés par l’Histoire. Un camp pour les Tsiganes ... et les autres. Montreuil-Bellay 1940–1946, 4. Auflage, Editions Wallâda, Marignan 2011
Vion, Pascal: Le camp de Jargeau juin 1940 – décembre 1945. Histoire d'un camp d'internement dans le Loiret, Orléans 1993
ONAC Pays de la Loire: Un exemple d’exclusion: l’internement des nomades dans l’actuelle région des Pays de la Loire. 1939–1946, Broschüre, La Roche-sur-Yon o.J.
http://fr.wikipedia.org/wiki/Roms
http://aphgcaen.free.fr/cercle/tsiganes.htm (über die Internierung/Internierungslager)
www.cheminsdememoire.gouv.fr/de/node/7484 (internement des tsiganes)
www.etudestsiganes.asso.fr/ (Webseite der Stiftung für „Tsiganes-Studien“)
https://www.cairn.info/revue-guerres-mondiales-et-conflits-contemporains-2007-2-page-69.htm