Elchanan Elkes wurde 1879 in Kalvarija (damals zaristisches Russland) geboren. Er erhielt sowohl eine traditionell jüdische als auch säkulare Ausbildung in Kaunas und studierte anschließend bis 1903 Medizin im preußischen Königsberg. Er praktizierte in einem kleinen Dorf in Weißrussland und nahm als Arzt in der Russischen Armee am Ersten Weltkrieg teil. Ab 1923 leitete Elkes die Innere Medizin im jüdischen Krankenhaus in Kaunas. Mit seiner Reputation als hervorragender Arzt gehörten zu seinen Patienten sowohl jüdische als auch nichtjüdische Patienten, litauische Politiker und Mitglieder der deutschen Gesandtschaft in Kaunas. Aber auch Arme erhielten von ihm eine kostenlose Behandlung. Elkes war Mitglied einer zionistischen Jugendbewegung und engagierte sich in zahlreichen kulturellen Aktivitäten. Als Kaunas 1940 unter sowjetische Besatzung geraten war, konnte er dank seiner guten Kontakte Visa für eine große Zahl von Juden, die vor der Deutschen Invasion aus Polen geflohen waren, beschaffen.
Unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 begannen in Kaunas die Mordaktionen an der jüdischen Bevölkerung, in den nächsten Wochen folgte die Ermordung von Tausenden durch die Einsatzgruppen und ihre litauischen Hilfstruppen. Obwohl Elchanan Elkes aus diplomatischen Kreisen Hilfe für Flucht angeboten wurde, blieb er in Kaunas und kam mit seiner Familie und weiteren 30.000 Juden in das am 15. August 1941 errichtete Ghetto in Vilijampolė. Ein Jüdisches Komitee, das für den „geordneten“ Umzug zu sorgen hatte, wählte Elkes zum Leiter des „Ältestenrats“ – einer der wenigen Judenräte, der nicht von der deutschen Besatzung eingesetzt wurde. Wegen seiner Beziehungen traute man ihm eine starke Verhandlungsposition zu. Trotz schwacher Gesundheit leitete Elkes das Amt über mehr als drei Jahre mit hoher moralischer Integrität. Im Gegensatz zu anderen Ghettos gab es unter seiner Leitung kaum Korruption und Konkurrenz um Privilegien, und im Gegensatz zu Judenratsleitern in anderen Ghettos kooperierte Elkes mit dem Widerstand im Ghetto.
Trotz hohem persönlichen und couragierten Einsatz konnte Elkhanan Elkes die grausamen Selektionen im Ghetto nicht verhindern. Bei der „Großen Aktion“ am 28. Oktober 1941, bei der die nicht-arbeitsfähigen Ghetto-Bewohner selektiert und getötet wurden, verlor Elkes beinahe selbst das Leben, als er sich beim Kommandeur der Selektion, Helmut Rauca, für die Rettung einzelner Menschen und Familien einsetzte. Er widersetzte sich dem Gestapomann Willy Koslowski, der aus Revanche für angebliche Schüsse auf sein Haus die Auslieferung von 500 Geiseln zur Erschießung verlangte. Seine Antwort auf die Drohung, das gesamte Ghetto zu liquidieren: „Es mag das Leben aller 45.000 Juden im Ghetto kosten, aber ich werde nie einen Juden an Sie zur Erschießung aushändigen“ (Kovno Stories). Darauf selektierte die Gestapo selber 1.608 Geiseln und erschoss sie im IV Fort. Nach diesen Aktionen und nachdem die Nachrichten von den Vernichtungsaktionen in Polen in das Ghetto gelangt waren, wurde der bewaffnete Widerstand im Ghetto (AKO) sowohl vom Ältestenrat als auch der Ghetto-Polizei aktiv unterstützt. Die Mitglieder des Widerstands erhielten Mittel zur Beschaffung von Waffen, zur Organisation der Produktion von Munition, Möglichkeiten zur Übung an den Waffen, sowie Hilfestellung für die Flucht zu den Partisanen.
Im Herbst 1943 wurde das Getto in ein KZ umgewandelt. In weiteren Schritten wurde die Ghetto-Bevölkerung im IX. Fort ermordet oder in Arbeitslager deportiert. Im März 1944 wurde der Ältestenrat aufgelöst. Elkes blieb im Ghetto bis zu dessen Liquidierung am 08. Juli 1944, bei der ungefähr 2.000 Juden ermordet und weitere 4.000 in Lager und KZs deportiert wurden. Elkes gelangte in einem Transport via Stettin in das KL Landsberg, einem Nebenlager von Dachau. Dort wurde er im „Lazarett“ eingesetzt. Er starb nach einem Hungerstreik am 17. Oktober 1944, nachdem er sich geweigert hatte, kranke und nicht-arbeitsfähige Häftlinge zu selektieren.
Elkes Frau Miriam überlebte die Deportation in das KZ Stutthof und lebte bis zu ihrem Tod 1965 in Israel. Die beiden Kinder, Sohn Joel (1913–2015) und Tochter Sara (1924–2015), überlebten in England, weil die Eltern ihn 1930 und sie 1938 zum Studium nach London geschickt hatten. Elkes hatte seinen Kindern am 19. Oktober 1943 einen bewegenden Brief zu seinem Leben und zum Schicksal des Ghettos geschrieben. Er endet mit den Worten: „Ich schreibe zu einer Zeit, in der viele verzweifelte Seelen, viele Witwen und Waisen, in Lumpen gekleidete Menschen und Hungernde meine Türe belagern mit der Bitte um unsere Hilfe. Meine Kraft schwindet dahin, in mir ist Wüste und Leere, meine Seele ist entflohen und ich bin nackt und leer und kann kein Wort hervorbringen“ (Die Quellen Sprechen). Dieses „Testament“ wurde von Avraham Tory, einem Überlebenden des Ghettos, gerettet.
Literatur / Medien
Dieckmann 2011, Bd. 2, S. 955ff., S. 1056ff., S. 1230; Faitelson, Alex: Im jüdischen Widerstand, Zürich 1998, S.70f., S. 282ff.; Grossman, Wassili / Ehrenburg, Ilja: Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden, hrsg. von Arno Lustiger, Frankfurt/M. u.a. 1994, S. 609; Matthäus, Jürgen: Das Ghetto Kaunas und die "Endlösung" in Litauen, in: Benz / Neiss (Hg.): Judenmord in Litauen, Berlin 1999, S.108; The Testament of Dr. Elchanan Elkes, Chairman of the Kaunas Ghetto Judenrat to Son and Daughter, in: Levinson, Joseph: The Shoa (Holocaust) in Lithuania, Vilnius 2006, S. 94–97
http://www.eilatgordinlevitan.com/Kovno Stories (Kovno Stories, Zitat übers. Red.)
http://www.jewishvirtuallibrary.org/elhanan-elkes
http://www.holocaustresearchproject.org/survivor/elkes-london-letter.html
http://die-quellen-sprechen.de/07-273.html (Die Quellen Sprechen, Zitat Brief)
Foto: Yad Vashem, Digital Collections, Photo Archive, Archival Signature: 7003/172, Item ID 3828697
Brief: Yad Vashem unter http://www.yadvashem.org/pope-visits/benedict/letter-read