Auch für Vilnius unter deutscher Besatzung galt: neben den Juden bildeten die sowjetischen Kriegsgefangenen die größte Opfergruppe. Auf dem Stadtgebiet bestanden ab Juli 1941 zunächst sog. Durchgangslager (Dulags), später entstand das Stammlager (Stalag) 344. Nur wenige dokumentarische Spuren konnten nach 1944 zum Schicksal der Kriegsgefangenen in Vilnius gefunden werden. Der Historiker Christoph Dieckmann hat in Archivbeständen zum Lukiškės-Gefängnis der Stadt und in deutschen Ermittlungsakten Angaben recherchiert, wonach nach Fluchtversuchen aus den Gefangenenlagern rücksichtslos erschossen wurde, dass aus den Lagern im südlichen Stadtgebiet „in der Nähe Gefangene erschossen wurden“ und dass „politisch untragbare“ Gefangene (insbesondere kommunistische Funktionäre und jüdische Soldaten) „… erst im Wald, später im Hof des Lagers durch Genickschuss ermordet wurden“. In Akten des Lukiškės-Gefängnisses fanden sich u.a. folgende Vermerke, die vor der Übergabe der Gefangenen zur Exekution an die SS-Sicherheitspolizei eingetragen worden waren: „Jude“, „ist Jude“, „Politruk“, „Ruhe und Sicherheit im Lager gefährdet“, „politisch unerwünscht“, „hielt kommunistische Reden“.
In den Berichten von Yitzhak Arad und Abraham Sutzkever werden die unmenschlichen Lebensbedingungen der sowjetischen Kriegsgefangenen beschrieben. Von den ca. 7.000 sowjetischen Kriegsgefangenen im Stalag 344 starb über die Hälfte an Hunger, Typhus und schwerster Arbeit, die sie gemeinsam mit jüdischen Zwangsarbeitern zu leisten hatten. Die FPO-Führung wies ihre Mitglieder an, die Kriegsgefangenen und die ca. 600 sowjetischen Familienmitglieder, die in der Subocz-Straße interniert waren, zu unterstützen: mit Essen, Zigaretten, Kleidung und mit Informationen über den Frontverlauf. Außerdem wurde eine spezielle Gruppe innerhalb der FPO gegründet, die geflüchtete Kriegsgefangene mit erforderlichen Papieren und mit Kleidung ausrüstete und ihnen den Weg zu den Partisaneneinheiten wies. Die russischen Frauen und Kinder drückte ihre Dankbarkeit in folgendem Brief aus: "Wir werden nicht vergessen und wenn die Zeit kommt, werden wir unserer Heimat berichten, dass im Jahr 1942 die versklavten und gequälten Juden des Ghettos Wilna ihre Menschlichkeit nicht verloren haben. Zu einer Zeit, in der die Strafe für einen Juden, der bei Gespräch mit einem Nicht-Juden gefaßt wurde, der Tod war, haben sie ihr Leben riskiert und andere Menschen, die Opfer des gleichen Regimes waren, vor Hunger und Kälte bewahrt." (Ainsztein)
Eine sowjetische Kommission schätzte 1944 die Zahl der in Vilnius getöteten Kriegsgefangenen auf ungefähr 5.000; 1.000 von ihnen wurden auf dem Russischen Friedhof der Stadt bestattet. Überlebende des Kommandos der Aktion 1005 haben berichtet, dass sie bei den Ausgrabungen auf Massengräber mit den Leichen von sowjetischen Kriegsgefangenen gestoßen sind (Paneriai; Wehrmacht/Verbrecherische Befehle).
Literatur/Medien
Christoph Dieckmann 2011, Bd. 2, S. 353 ff.; Grossman, Wassili / Ehrenburg, Ilja: Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden, Frankfurt/M. u.a. 1994, S. 526 ff.; Arad, Yitzhak: Ghetto in Flames. The Struggle and Destruction of the Jews in Vilna in the Holocaust, New York 1982, S. 261 f.; Ainsztein, Reuben: Jüdischer Widerstand im deutschbesetzten Osteuropa während des Zweiten Weltkrieges, Oldenburg 1993, Zitat S. 247
http://www.yadvashem.org/yv/de/education/interviews/dieckmann.asp
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Antakalnis-cemetery.jpg (Foto)