Schriftgröße A A A

Tulle

Region Limousin, Departement Corrèze

Der Ort
Hauptstadt des Departement Corrèze, ca. 15000 Einwohner/innen, gelegen im engen und kurvenreichen Tal des Bachs Corrèze, an der D 1089/A 89 BordeauxClermont-Ferrand, Sortie/Ausfahrt 20 oder 21.

Die Ereignisse
Résistance
In Tulle gab es wie im gesamten Limousin früh Widerstandsnetze und ab 1942/43 Maquis und Aktionen wie Sabotagen, Anschläge auf Bahnanlagen, Telefonleitungen, deutsche Soldaten und Kollaborateure. Abbé Charles Lair war Funker des Netzwerks Alliance, wurde am 20. Februar 1943 von der Gestapo verhaftet und am 23. Mai 1944 in Ludwigsburg erschossen (Gedenktafel in der Kathedrale). Martial Brigouleix, ein Weggefährte von Edmond Michelet, Regionalchef und Gründer der freien Kampfgruppen der AS, wurde am 17. April 1943 von der Gestapo verhaftet und am 2. Oktober auf dem Mont-Valérien erschossen. Sechs inhaftierte, meist den FTP angehörende Résistants wurden am 2. April 1944 im Gefängnishof durch Gestapo und Milice erschossen – als „Repressalie“ für den tödlichen Anschlag auf den Adjudanten des SS-Chefs von Limoges, August Meier (ursprünglich sollten 50 Einwohner von Tulle erschossen werden).

Gedenktafel Abbé Lair (© Michel Cantillon, genweb) Denkmal Brigouleix (© Michel Cantillon, genweb) Denkmal Erschossene April '44 (© Michel Cantillon, genweb)

Versuchte Befreiung durch den Maquis
Mit der alliierten Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 begann die „aufständische Phase“ der Résistance, in der u.a. Orte und Gebiete befreit werden sollten. Am 7. Juni 1944 morgens griffen bewaffnete FTP-Einheiten unter Jean Chapou und Elie Dupuy die deutsche Garnison an, brachten Teile der Stadt unter ihre Kontrolle (bis auf den Ortsteil Souilhac und die Waffenfabrik MAT) und nahmen 60 deutsche Soldaten gefangen. In den Kämpfen fielen etwa 40 deutsche Soldaten. 15 FTP-Kämpfer, darunter Albert Faucher, starben im Kampf, 36 wurden verwundet; Jean Martial Picard wurde im Kampf verwundet, von den Deutschen entdeckt und am 9. Juni erhängt. Am Abend erschossen Wehrmachtssoldaten 18 Bahnwärter, die nicht am Kampf teilgenommen sondern sich im Warteraum aufgehalten hatten. Als sie mit erhobenen Händen aus dem Bahnhof kamen, wurden sie ohne Vorwarnung von Wehrmachtssoldaten mit Gewehrfeuer empfangen und erschossen. Näheres vgl. Kartheuser, Band 3, S. 322ff.

Tafel Albert Faucher (© Michel Cantillon, genweb) Gedenktafel Jean Martial Picard (© Michel Cantillon, genweb) Stele erschossene Bahnwärter (© Michel Cantillon, genweb)

Die Erhängungen am 9. Juni 1944 
Kopie des Plakats Teile der Waffen-SS-Panzerdivision „Das Reich“ rückten am 8. Juni 1944 abends in Tulle ein. Sie sollte im Auftrag der Wehrmacht das Limousin von „Partisanen säubern“ und den „Widerstand ausmerzen“. Die Widerstandskämpfer wichen vor der Übermacht zurück, sie wurden von der SS-Truppe nicht verfolgt. SS-Divisionskommandeur Heinz Lammerding hatte offenbar anderes vor: Er wollte die der „deutschen Fahne angetane Beleidigung sühnen“. Am 9. Juni morgens wurde das Vorgehen zwischen SS und Wehrmacht verabredet. SS-Leute durchkämmten die Stadt, holten tausende von Männern zwischen 16 und 60 Jahren aus ihren Häusern und versammelten sie vor der Waffenfabrik im Viertel Souilhac. Nach endlosen und mehrfachen 'Selektionen' wurden schließlich 99 (Zivil-)Personen zwischen 17 und 45 Jahren nach willkürlichen Kriterien für die Erhängung ausgewählt. Nachmittags ließ der 'kommandierende General der deutschen Truppen' (d.h. Lammerding) in der Stadt plakatieren:

„... Für die Partisanen und ihre Helfer gibt es nur eine Strafe: Erhängen. Sie kennen den offenen Kampf nicht und haben kein Gefühl für Ehre. … 120 Partisanen oder die gleiche Anzahl ihrer Komplizen werden erhängt, ihre Leichen werden in den Fluss geworfen.
In Zukunft werden für jeden verwundeten deutschen Soldaten drei Partisanen erhängt; für jeden ermordeten deutschen Soldaten werden zehn Partisanen oder die gleiche Anzahl ihrer Komplicen erhängt.“

Zwischen der Route de Brive und dem Bahnhof wurden an Balkonen, Laternen- und Telefonmasten Schlingen geknüpft. Jeweils 10 Männer wurden aus der Fabrik geführt und erhängt. Ihre Leichen wurden später auf einen Müllhaufen neben dem Bach außerhalb der Stadt geworfen. Über 300 Einwohner wurden nach Limoges gebracht und nach erneuter Auswahl 149 in das KZ Dachau deportiert, 101 kamen nicht zurück. Eine andere Abteilung der SS-Division löschte am nächsten Tag (10. Juni) die Bevölkerung von Oradour-sur-Glane aus. „Mehr noch als die Zahl von 99 Opfern sollte die Inszenierung der Erhängungen den Terror langfristig verstärken. Die Wirksamkeit hing nicht von einer präzisen Zahl ab, sondern mehr noch vom Schauspiel der Gewalt, die die Menschen erniedrigen sollte“ (Fouché/Beaubatie: Tulle …, S.174).
Das Vorgehen der SS war keine spontan beschlossene „Repressalie“ – wie SS, Wehrmacht und ihre Apologeten später behaupteten –, sondern entsprach der Blutspur aus Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung, Anzünden von Höfen und Dörfern, willkürlichen Verhaftungen, Deportationen und Erschießungen, die die SS-Division seit Mai 1944 in Südfrankreich bei der 'Partisanenbekämpfung' hinterlassen hatte. Es folgte den Vorschlägen für verschärften Terror gegen Maquis und Zivilbevölkerung, die Lammerding am 5. Juni 1944 der Wehrmacht vorgelegt und die diese akzeptiert hatte.
Näheres vgl. Kartheuser, Band 3, S. 398ff.; ders.: Die Erhängungen von Tulle, in: Hervé/Graf, S. 10ff.

FFI-Denkmal, Friedhof Puy-Saint-Clair (© Michel Cantillon, genweb) Gedenkstele Nazi-Opfer Stele Opfer der Waffenfabrik (© Michel Cantillon, genweb)

Massaker von Tulle – ein ungesühntes Verbrechen
Zwei SS-Führer wurden 1951 wegen der Erhängungen vom Militärgericht Bordeaux zu mehrjähriger Zwangsarbeit verurteilt, kamen aber bald frei. Keiner der führend an dem Massaker Beteiligten wurde in Deutschland gerichtlich zur Rechenschaft gezogen und verurteilt. Die Bevölkerung von Tulle hat immer wieder eine Sühne und Bestrafung der Täter gefordert – vergeblich. SS-Divisionskommandeur Heinz Lammerding wurde zwar 1951 in Bordeaux in Abwesenheit zum Tode verurteilt; er lebte aber unbehelligt als Bauunternehmer in Düsseldorf und zeitweise in Bayern, offenbar geschützt von deutschen und US-Stellen. Er und andere SS-Offiziere wurden nicht nach Frankreich ausgeliefert, Ermittlungen wurden eingestellt – dabei legten die deutschen Gerichte die Aussagen der SS-Leute zu Grunde. Neue Hoffnung kam nach dem deutsch-französischen Überleitungsabkommen von 1971 auf, das Strafverfahren und Urteile gegen in Frankreich in Abwesenheit Verurteilte ermöglichte (vgl. Strafverfolgung der deutschen Täter) – doch Lammerding starb vor dessen Abschluss. Sein Versuch, sich in einem Beleidigungsprozess gegen die Zeitung Die Tat reinwaschen zu lassen, misslang: Nach Ansicht des Düsseldorfer Landgerichts „ ... ist nicht mehr daran zu rütteln, dass damals ein ruchloser, jedem Recht und Gesetz Hohn sprechender Massenmord vollführt wurde“. Man konnte also weiter über ihn behaupten, für viele Geiselmorde in Frankreich verantwortlich zu sein. Näheres: Kartheuser, Band 4, S. 302ff.; ders.: Die Erhängungen von Tulle, in: Hervé/Graf, S. 10ff.

Gedenkstätte 'Mémorial de Cueille. Champ des Martyrs de Tulle' Tafel mit den Namen der 99 Erhängten Tafeln mit den Namen der 101 umgekommenen Deportierten

Gedenken 
Die Bevölkerung von Tulle versammelt sich an jedem 9. Juni am Ort der Erhängungen an der Stele für die Opfer des Nazismus (Text: „9. Juni 1944: 99 Geiseln wurden von der Division 'Das Reich' an Balkonen und Laternenmasten erhängt. 149 wurden in die Todeslager deportiert, 101 von ihnen sind nicht zurückgekehrt. Vergesst nicht!“) und geht in einem Schweigemarsch bis zu der Stelle, an der die Leichen der Erhängten auf einen Abfallhaufen geworfen wurden. Hier am Ortsausgang Richtung Brive (D 1089) erinnert die Gedenkstätte (Mémorial de Cueille, Champ des martyrs de Tulle) an die Morde der SS-Truppe, an die Hintergründe, den Ablauf und die Opfer. Eine Tafel ist den 99 Erhängten gewidmet, „Märtyrer von Tulle, Opfer der Nazibarbarei“. Auf fünf Tafeln sind die Namen der 101 in der Deportation Umgekommenen verzeichnet.
In der Stadt erinnern zahlreiche Tafeln und Stelen an weitere Opfer und Ereignisse: in der Kathedrale an den nach fünfzehnmonatiger Haft in Ludwigsburg erschossenen Pfarrer Charles Lair; ein Denkmal an den AS-Chef Brigouleix und andere Résistance-Märtyrer (neben Rue Jean Jaurès Nr. 43); eine Stele an die sechs als Geiseln aus dem Gefängnis geholten und erschossenen Widerstandskämpfer (am Ort des abgerissenen Gefängnisses, vor der Schule École Turgot, Rue de la Bride); eine Stele an die ermordeten Bahnwärter (Text: „Dem Gedenken an die 18 Franzosen, die am 7. Juni 1944 von den Deutschen viehisch erschossen wurden“; vor dem Bahnhof, rechter Flügel); eine Tafel an Jean Martial Picard, der bei den Kämpfen schwer verwundet und danach erhängt wurde (Ecke Rue des Martyrs/Rue du Docteur Valette); an den FTP-Anführer Albert Faucher eine Tafel neben der Treppe zum Gerichtsgebäude, wo er im Kampf getötet wurde (9 Quai Gabriel Péri), ein zentraler Platz wurde nach ihm benannt; eine Stele an die toten FFI-Kämpfer (auf dem Friedhof Cimetière du Puy-Saint-Clair, neben dem allgemeinen Totendenkmal; Rue de la Barusse im Westen der Stadt); eine große Tafel an die toten, gehängten und deportierten Arbeiter der Waffenfabrik MAT (am ehemaligen Verwaltungsgebäude der stillgelegten Fabrik, am Anfang der Rue du 9 Juin 1944). Ein Wegweiser der Stadt führt zu den Gedenkorten: „Tulle, résistante et martyre“, Chemin de Memoire.

Literatur/Medien
Kartheuser, Bruno: Walter, SD in Tulle. 4 Bände. Band 3: Die Erhängungen von Tulle. Der 9. Juni 1944, Neundorf 2004; Band 4: Die Erhängungen von Tulle. Ein ungesühntes Verbrechen, Neundorf 2008; ders.: Die Erhängungen von Tulle - Les pendaisons de Tulle, in: Hervé/Graf, S. 10ff.
Hervé, Florence/Graf, Martin: Oradour. Geschichte eines Massakers / Histoire d'un massacre, Köln 2014
Delarue, Jacques: Trafics et crimes sous l'occupation, 2. Aufl., Paris 1993, bes. S. 355ff., 478ff.
Fouché, Jean-Jacques/Beaubatie, Gilbert: Tulle. Nouveaux regards sur les pendaisons et les évènements de juin 1944, Paris 2008
Dictionnaire historique de la Résistance, Paris 2006, S. 163f., 633f.
Petit futé. Guide des lieux de mémoire, Paris 2005, S. 163f.; Ausgabe 2011/2012, S. 114
http://www.eu-tagung-osthofen.eu/index.php/kartheuser.html
http://www.geschichtsthemen.de/massaker_von_tulle_1944.htm
http://fr.wikipedia.org/wiki/Massacre_de_Tulle
http://www.ville-tulle.fr/sites/default/files/chemins_memoire.pdf